Storytelling

von Markus Ernst Müller

 

«Postfaktisch» ist das Modewort der Stunde, seit Angela Merkel und Donald Trump es salonfähig gemacht haben. Die Politik orientiere sich nicht mehr an Tatsachen, sondern an Meinungen und Gefühlen, heisst es. Dem mag ich nicht widersprechen, aber: Ist das neu?

 

Als Typograf interessiere ich mich naturgemäss für die Werbebranche, denn da wäre für einen wie mich Geld zu verdienen. Schon seit Jahren nennt diese in Stelleninseraten unter den erwünschten Kompetenzen ihrer Mitarbeitenden die Fähigkeit zum «Storytelling».

 

Und das tun die Werber denn auch: Statt die Eigenschaften eines Autos anzupreisen, erzählen sie uns die Geschichte vom freien Einzelkämpfer, der sich von niemandem dreinreden lässt, oder von der glücklichen Familie auf dem Weg zum Picknick. Statt die chemische Zusammensetzung von Zahnpasten oder Waschpulvern zu erläutern, erzählen sie uns die Geschichte von Mikro-, Makro- und Megaperls oder magischen Superweissformeln.

Und Storytelling betreibt auch die Politik. Wir erinnern uns an die Geschichte vom Schweizer aufschlitzenden Kosovaren, das Märchen von der Masseneinwanderung, die Legende vom freien Schweizer, der sich keinem fremden Richter beugt.

 

Neu ist dies aber nicht: Bereits die Wahlerfolge der Nationalsozialisten in den Dreissigerjahren basierten auf fast identischen Geschichten. Und Storytelling ist auch keine Spezialität der populistischen Rechten: Der Freisinn beschwört inbrünstig die Mär von einem freien Markt, der alle Probleme löse. Die KommunistInnen in Russland vor hundert Jahren erzählten die Geschichte einer Gesellschaft von freien, gleichberechtigten ArbeiterInnen und stürzten damit Zar und Adel. Martin Luther King sagte nicht etwa «Die Statistiken belegen, dass…», sondern «Ich habe einen Traum». Und noch viel erfolgreicher als politische Ideen sind die Religionen, die sich zu null Prozent durch Fakten, aber zu hundert Prozent durch Geschichten legitimieren.

 

Die Rechte sei derzeit so erfolgreich, hörte man in den letzten Jahren oft, weil sie «die Ängste der Bevölkerung ernst nehme». Das ist, mit Verlaub, Stumpfsinn. Und ganz besonders, wenn die anderen politischen Kräfte daraus schliessen, sie könnten an dem Erfolg teilhaben, indem sie sich selbst mehr nach rechts orientieren. Die Rechte ist erfolgreich, weil sie sehr geschickt im Erzählen von Geschichten ist. Wohl hat sie dabei einen Startvorteil: Die Geschichte vom «Wir gegen die Anderen» ist leicht zu verkaufen. «Wir», die Rechtschaffenen, die unseren kleinen Wohlstand hart erarbeitet haben; «die Anderen», die nichts leisten, aber profitieren wollen.

Eine sehr mächtige Geschichte, denn diese «Anderen» können beliebig besetzt werden: Die AusländerInnen, die Linken, das Establishment … Und mit dem «Wir gegen das Establishment» erwischen sie uns mitten in unserem linken Kerngebiet «Unten gegen Oben».

 

Uns Linken jedoch scheinen seit dem Fall des Ostblocks und dem Erstarken der globalen Konzerne die grossen Geschichten ausgegangen zu sein. Die Geschichte vom Arbeiter wird wohl, auch mit vielen realpolitischen Verdiensten gewürzt, nicht reichen, um den Kapitalismus zu überwinden. Und das liegt nicht am Cüpli in Levrats Hand – sondern daran, dass die Geschichte von einer postkapitalistischen Welt noch nicht geschrieben ist. Spitzt die Federn, GenossInnen!

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