«Sobald das Auto weniger privilegiert wird, entsteht Platz für den öV»

Letzte Woche reichten die JungsozialistInnen (Juso) Stadt Zürich ihre Volksinitiative «Gratis öV für Züri» mit knapp 3600 Unterschriften ein. Weshalb der öV in Zürich gratis werden soll und warum wir die städtische Mobilität grundsätzlich neu denken müssen, erklärt Anna Luna Frauchiger, Co-Präsidentin der Juso und Mitglied des Initiativkomitees, im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Was fordern die Juso mit ihrer Volksinitiative «Gratis öV für Züri»?

Anna Luna Frauchiger: Wir verlangen, dass der öffentliche Verkehr auf Stadtgebiet, also die ganze Zone 110, kostenlos ist. Das heisst, dass auch Menschen von ausserhalb der Stadt ab Stadtgrenze kein Billett mehr brauchen. Es profitieren somit nicht nur die Stadtzürcherinnen, sondern auch die Pendler. Die Einführung des Gratis-öV sehen wir als wichtigen Schritt im Hinblick darauf, in der Klimapolitik vorwärts zu machen. Um das Ziel von netto Null CO2-Emissionen bis 2030 zu erreichen, das seit 2019 in der Gemeindeordnung der Stadt Zürich verankert ist, sind radikale Veränderungen nötig. Mit dem Gratis-öV verfolgen wir aber auch sozialpolitische Ziele: Menschen mit geringen Einkommen, StudentInnen, SeniorInnen, Asylsuchende oder auch Sans-Papiers können sich die 782 Franken, die das öV-Abo für die Stadt Zürich pro Jahr kostet, kaum leisten. Für sie würde die Einführung des Gratis-öV eine grosse Entlastung bedeuten.

 

Die Initiative ist «als allgemeine Anregung formuliert»: Was bedeutet das genau?

Eine städtische Initiative kann in der Form eines fertig ausgearbeiteten Entwurfs eingereicht werden. Wir haben uns stattdessen für eine Initiative in der Form einer allgemeinen Anregung entschieden: Damit ist zuerst der Stadtrat am Zug und kann einen Umsetzungsvorschlag machen. Lässt er das sein, bekommt der Gemeinderat die Gelegenheit, seinerseits einen Vorschlag zu bringen. Falls er es nicht macht, kommt es zur Volksabstimmung.

 

Warum haben sich die Juso für dieses Vorgehen entschieden?

Der Grund dafür ist, dass es rechtlich noch einige Unklarheiten gibt. Vieles läuft bekanntlich auf kantonaler Ebene ab: Beim öV überschneiden sich die Kompetenzen des Zürcher Verkehrsverbunds (ZVV) und der Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich (VBZ). Es existieren verschiedene rechtliche Auffassungen darüber, wie ein Gratis-Angebot auf dem Gebiet der VBZ funktionieren könnte. Deshalb haben wir die Form der allgemeinen Anregung gewählt und überlassen es der Stadt, wie sie unser Anliegen ausformuliert und ein funktionierendes Angebot daraus macht.

 

Wenn eine Gemeinde ein öV-Anliegen hat wie beispielsweise eine zusätzliche Busverbindung auf einer Strecke, die für den ZVV keine hohe Priorität hat, dann erhält sie schon mal die Antwort, «könnt ihr haben, aber ihr müsst alles selber zahlen». Der Stadt Zürich dürfte es da kaum besser gehen…

Eine Idee unsererseits läuft darauf hinaus, dass die Stadt dem ZVV die entgangenen Einnahmen zahlen soll, also den Betrag für jene Abos fürs Stadtgebiet, die ansonsten gekauft worden wären. Aber Stadt- oder Gemeinderat haben dazu möglicherweise noch andere Vorschläge, wir sind jedenfalls offen dafür.

 

Den Gratis-öV müssten somit ausschliesslich jene berappen, die in der Stadt Zürich Steuern zahlen.

Uns ist es vor allem wichtig, dass deswegen nicht einfach die Steuern für alle erhöht werden, denn darunter hätten wiederum jene am meisten zu leiden, die sowieso schon materiell schlecht gestellt sind. Das Beispiel der Stadt Aubagne in Frankreich, wo der öV schon seit über zehn Jahren gratis ist, zeigt, wie man es besser machen könnte: Dort müssen alle Unternehmen mit mehr als zehn MitarbeiterInnen eine Transportsteuer bezahlen. Etwas in dieser Art könnte ich mir auch für Zürich gut vorstellen, oder alternativ eine Steuer für die höchsten Einkommen.

 

Dank gutem öV-Netz mit dicht getaktetem Fahrplan bekommen die Unternehmen ihre Belegschaft pünktlich zur Arbeit ‹angeliefert› – und das, während gleichzeitig die Unternehmenssteuern stetig sinken: Ist es das, was Sie stört?

Das ist ein Teil des Problems, doch es gibt noch eine weitere Ungerechtigkeit: Immer mehr Menschen können sich in der teuren Stadt Zürich keine Wohnung mehr leisten und sind deshalb gezwungen, zur Arbeit in die Stadt zu pendeln, was sie eine Stange Geld kostet. Dank Gratis-öV würden sie entlastet. Es wäre zudem nichts als gerecht, dass die Unternehmen einen Beitrag leisteten und den Gratis-öV mitfinanzierten.

 

Der öV dürfe nicht gratis sein, denn «was gratis ist, ist nichts wert»: Was halten Sie von dieser Aussage?

In unserer kapitalistischen Gesellschaft haben wir die Auffassung fest internalisiert, dass etwas nur dann einen Wert haben kann, wenn es auch ein Preisschild hat. Es ist höchste Zeit, dass wir von diesem Fehlschluss wegkommen, nicht zuletzt angesichts der Klimakrise: Wir müssen uns, bildlich gesprochen, umdrehen, einen Schritt zurück machen, umdenken. Es gibt beispielsweise nach wie vor vieles, was man weder in der Schule lernen kann noch was etwas kostet und das trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – wichtig ist fürs gute Zusammenleben. Ich glaube nicht an den Satz, dass etwas nichts wert sei, nur weil es nichts kostet.

 

Was nützt es dem Klima, wenn mehr Tram und Bus gefahren wird? Auch der öV braucht Platz und Energie und führt zu mehr Zersiedelung – und ist der öV gratis, wird mehr gefahren, was das Klima noch mehr belastet.

Wenn die Menschen entsprechend weniger Auto fahren, reduziert sich der CO2-Ausstoss. Aber grundsätzlich wäre den Juso schon «Züri autofrei» am liebsten… Ich bin deshalb sehr froh, dass die Velorouteninitiative angenommen wurde. Der Stadtrat muss sie nun zügig umsetzen. Dass auch der öV Ressourcen verbraucht, ist klar, und sicher wäre es noch besser, wenn in der Stadt nur noch Velo gefahren und zu Fuss gegangen würde. Doch wir müssen alle mitnehmen, und es können und wollen nun mal nicht alle Velo fahren oder zu Fuss gehen. Für SeniorInnen, aber beispielsweise auch für jüngere Menschen mit Beeinträchtigungen sowie für längere Strecken oder wenn man etwas transportieren muss, ist der öV unabdingbar, und manchmal geht es nicht ohne Auto.

 

Was passiert, wenn der Gratis-öV so gut funktioniert, dass er Opfer seines Erfolges wird? Völlig überfüllte Trams und Busse will doch niemand.

Wir müssen die städtische Mobilität grundsätzlich überdenken, gerade in der Stadt Zürich, in der immer noch der Autoverkehr dominiert und wo immer noch viel zu viel für den motorisierten Individualverkehr gemacht wird. Indem wir mit dieser Privilegierung des Autos aufhören und stattdessen den öV stark ausbauen, machen wir ihn zukunftstauglich. Dann sollte es auch möglich sein, Platz für all jene Menschen zu schaffen, die bislang mit dem Auto unterwegs waren und dank des neuen Gratisangebots auf Tram und Bus umsteigen.

 

Den öV auszubauen, dürfte nicht einfach werden in einer Stadt wie Zürich. Der Platz ist bekanntlich jetzt schon knapp.

Sobald das Auto weniger privilegiert wird, entsteht Platz – für neue Ideen, aber auch konkret für den öV, das Velo, die Fussgänger­Innen. Wenn die Velorouteninitiative rasch und gut umgesetzt wird, sind wir schon einen grossen Schritt weiter. Je mehr Menschen sodann vom Auto auf den öV umsteigen, der stetig weiter ausgebaut wird, desto mehr Fahrstreifen und Parkplätze fürs Auto können wir abbauen, und dadurch entsteht nochmals mehr Platz. Wichtig ist einfach, dass die Umgestaltung des Verkehrssystems zugunsten des öV auf Kosten des Autos passiert und nicht auf Kosten des Velos, wie es in der Vergangenheit vorgekommen ist.

 

Dennoch: Warum gleich Gratis-öV? Damit verlöre man nicht zuletzt die Möglichkeit, die Menschen auf stark befahrenen Linien mittels vergünstiger Tickets von den Stoss- in die Randzeiten umzulenken. Wäre ein Mobility-Pricing, das es teurer macht, das Privatauto zu nehmen oder zu Stosszeiten S-Bahn zu fahren, nicht die bessere Idee? 

Mobility-Pricing stösst bei uns Juso auf Ablehnung, weil es unsozial ist: Wer zum Beispiel Schicht arbeitet, hat oft gar keine andere Wahl, als das Auto zu nehmen, um zur Arbeit zu fahren. Von jenen wiederum, die mit dem öV pendeln, ist ein grosser Teil darauf angewiesen, zu den Stosszeiten zu fahren: Viele Angestellten haben keine gleitende Arbeitszeit und können nicht dann pendeln, wenn es wenig Leute hat. Ihre Jobs sind zudem oft schlecht bezahlt. Mit einem Mobility-Pricing, das das Autofahren oder das Pendeln zu Stosszeiten teurer macht, würden sie zusätzlich belastet. Das ist unsozial und ungerecht, deshalb lehnen wir es ab.

 

Man könnte Ausnahmen für diese PendlerInnen festlegen oder den öV für bestimmte Gruppen gezielt verbilligen, beispielsweise für Jugendliche. Oder wie wäre es mit einer Abstufung der Ticketpreise nach Einkommen?

Darüber könnte man sicher reden, zum Beispiel dann, wenn ein Gegenvorschlag zu unserer Initiative ein Thema würde. Zu günstigeren Tarifen gab es bereits SP-Vorstösse im Gemeinderat, und auch eine Abstufung nach Einkommen wäre eine sinnvolle Lösung. Ich fände es allerdings wie bereits erwähnt grundsätzlich besser, wenn die Unternehmen einen bestimmten Anteil der Kosten für den öV fix übernehmen müssten.

 

Für Gratis-öV gab es in der Schweiz schon mehrere Vorstösse, unter anderem in den 1970er-Jahren in Basel sowie seit 2004 in Le Locle, Genf, Glarus oder St. Gallen. Sie wurden jedoch alle abgelehnt. Macht Ihnen das keine Sorgen?

Wir hoffen darauf, dass die Stadt Zürich, wie bei vielen anderen Themen, auch beim Gratis-öV eine Vorreiterrolle einnimmt. Gratis-öV gibt es zudem bereits in einigen Städten in Frankreich, in ganz Estland sowie seit dem 1. März 2020 in ganz Luxemburg. Wenn der Gratis-öV anderswo gut funktioniert, weshalb nicht auch in der Stadt Zürich? Ich bin optimistisch, dass die Initiative durchkommt und ZürcherInnen wie Pendler davon profitieren. Zudem ist es höchste Zeit für eine vertiefte Diskussion darüber, wie wir das Netto-Null-Ziel erreichen wollen. Von Stadt- und Gemeinderat jedenfalls kam bisher nichts, was uns in die richtige Richtung führen könnte. Dabei dürfte es unterdessen allen klar sein, dass es nicht klappen kann, wenn wir die Mobilität einfach ausklammern wie bisher. Wir müssen uns endlich konkrete Etappen vornehmen und uns raschmöglichst auf den Weg in Richtung 2000-Watt-Gesellschaft machen. Unsere Gratis-öV-Initiative ermöglicht es Zürich, einen grossen ersten Schritt zu machen.

 

Nachdem die Stimmberechtigten der Stadt Zürich am 29. November 2020 Nein zu Gratis-Badis gesagt hatten, spotteten die siegreichen Bürgerlichen schon mal, das sei die Quittung dafür, dass die SP den Kommunisten auf den Leim gekrochen sei… Ernsthaft: Wie gut stehen so kurz nach dieser Niederlage die Chancen auf Unterstützung der nächsten ‹Gratis›-Initiative durch die SP oder auch die Grünen?

Wir haben bereits mit dem Parteivorstand und der Geschäftsleitung der SP gesprochen. Innerhalb der SP laufen zurzeit unterschiedliche Diskussionen zum Thema ab. Es gibt auch in der SP Menschen, die finden, was gratis ist, sei nichts wert. Wir bekamen weiter zu hören, es gelte jetzt erst, die Velorouteninitiative umzusetzen. Andere wiede­rum erklärten, unsere Initiative sei eine super Idee. 

Kurz: Noch ist nichts beschlossen. Eine Absage gab es leider von den Jungen Grünen. Sie befanden, es sei wichtiger, sich fürs Velofahren und das Zufussgehen zu engagieren als für den öV, denn der sei zu wenig umweltfreundlich. Doch wir haben die Initiative ja erst eingereicht und noch längst nicht mit allen potenziellen Verbündeten gesprochen. Nochmals: Ich bin optimistisch, dass es klappt mit dem Gratis-öV für Zürich.

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