Wenn ein «Nein» nicht reicht

Die Revision des Schweizer Sexualstrafrechts ist schon lange fällig. Jetzt hat der Ständerat einen neuen Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung geschickt. Im Kern der Debatte: die Frage nach der Bestrafung des nicht-einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs ohne Nötigungsmittel. 

 

Roxane Steiger

Handelt es sich bei Sex, der gegen den Willen einer Person geschah, um eine Vergewaltigung? Wer dachte, diese Frage mit einem klaren «Ja» beantworten zu können, muss mit einem «nicht unbedingt» vertröstet werden. Im heutigen Schweizer Sexual­strafrecht muss sich eine ungewollte sexuelle Handlung anhand erforderlicher Kriterien fast schon qualifizieren, um als Vergewaltigung zu gelten. Frauenrechtsorganisationen fordern deswegen seit einiger Zeit die Einführung einer Zustimmungslösung – kurz: «Ja heisst ja». Somit soll jede Art von Penetration ohne Zustimmung als Vergewaltigung anerkannt werden. Eine solche Zustimmungslösung wurde bereits in Schweden und Dänemark eingeführt. In der Schweiz scheint sich die Politik mittlerweile in einem Punkt einig zu sein: Das heutige Sexualstrafrecht ist veraltet und dringend reformwürdig. Eine Subkommission des Ständerates hat in diesem Zusammenhang am 1. Februar
Vorschläge zur Revision des Sexualstrafrechtes in die Vernehmlassung geschickt. Anstelle einer Zustimmungslösung ist im Gesetzesentwurf allerdings ein neuer Strafbestand vorgesehen. Dagegen erheben nun verschiedene Organisationen ihre Stimme. 

 

Fernab der Realität

Unter dem heutigen Sexualstrafrecht gilt als Vergewaltigung, wenn eine «Person weiblichen Geschlechts» mit Nötigungsmittel, also mittels physischer Gewalt oder Drohung, zu vaginaler Penetration gezwungen wird. Liegt kein Nötigungsmittel vor oder handelt es sich um orale oder anale Penetration einer Frau, eines Mannes oder eines Transmenschen, fällt die Tat unter «sexuelle Belästigung». Während eine Vergewaltigung mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren bestraft werden kann, wird sexuelle Belästigung laut Strafgesetzbuch lediglich «auf Antrag mit Busse» bestraft. An diesem Punkt können wir festhalten: Was im Strafgesetzbuch steht, ist fernab der heutigen Realität und von alten Moralvorstellungen geprägt. Obwohl mehrheitlich Frauen Opfer von Vergewaltigung sind, können alle Geschlechter von sexueller Gewalt betroffen sein. Diese werden in der aktuellen Gesetzgebung nicht mitberücksichtigt.

Zudem belegen Studien, dass die meisten Opfer während einer Vergewaltigung eine Schockstarre erleben, die Abwehrreaktionen verunmöglicht. Täter brauchen somit weder zu drohen noch Gewalt anzuwenden, um ihre Opfer zu vergewaltigen. Auch wenn das Opfer in diesem Szenario ein «Nein, ich will nicht» über die Lippen bringt und dann penetriert wird, ist es laut Gesetz noch kein Vergewaltigungsopfer. Und der Täter kein Vergewaltiger. In der Vernehmlassungsvorlage sieht die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates für sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person den neuen Strafbestand «sexueller Übergriff» vor. Wer gegen den Willen einer Person eine sexuelle Handlung ohne Nötigungselement an ihr vornimmt, muss künftig mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe rechnen. Zudem soll der Begriff Vergewaltigung ausgedehnt werden. Dazu soll der Tatbestand geschlechtsneutral formuliert und die strafbaren sexuellen Handlungen von vaginaler Penetration zu «Eindringen in den Körper» ausgeweitet werden. 

 

Wo das Unrecht wirklich liegt 

Opferhilfe- und Frauenrechtsorganisationen sowie die SP-Frauen*, Amnesty International Schweiz oder Stimmen aus der Wissenschaft kritisieren die Gesetzesvorlage des Ständerats. Wieso sollte nicht-einvernehmlicher Geschlechtsverkehr ohne Nötigungselement als sexueller Übergriff behandelt werden und nur mit drei, statt zehn Jahren Freiheitsentzug bei nicht-einvernehmlichen Sex mit Nötigung, bestraft werden? «Nicht der Zwang, sondern die fehlende Zustimmung ist bei Vergewaltigung das entscheidende Kriterium», betonen die SP-Frauen* in ihrem Argumentarium. Amnesty International ergänzt in einer Mitteilung: «Der Gesetzesentwurf ist eine verpasste Gelegenheit, unmissverständlich klarzustellen, dass das grundsätzliche Unrecht nicht in der Nötigung oder der Gewalt liegt, sondern in der Missachtung der sexuellen Selbstbestimmung.» Sie fordern vom Parlament, im Gesetzesentwurf alle Formen des nicht-einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs nach dem Grundsatz «Ja heisst ja» als Vergewaltigung zu definieren. Das erforderliche Nötigungselement würde somit wegfallen und die Beweislage läge bei der Handlung gegen den erkennbaren Willen und der ausdrücklichen Zustimmung des Opfers.

 

Sexuelle Selbstbestimmung schützen

In der Vernehmlassungsdebatte dürften sich zu diesen Ansätzen aber auch kritische Stimmen äussern, darunter StrafverteidigerInnen. Diese fürchten, wie Interviews mit der ‹Republik› und der NZZ zu entnehmen ist, eine Umkehr der Beweislast und eine Zunahme von Falschanschuldigungen. Eines ist jedoch klar: Es braucht einen Strafbestand, der jegliche sexuelle Handlungen gegen den Willen von Opfern angemessen bestraft. Doch das ist bei weitem nicht alles: Schlussendlich wird von einer liberalen Gesellschaft ein Sexualstrafrecht gefordert, das die sexuelle Selbstbestimmung respektiert und schützt. 

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