So ein Kind

Ich habe so ein Kind. Jedenfalls denke ich das manchmal. So ein Kind, das vielleicht einmal angeben wird, sich stark belastet zu fühlen. Eines der Kinder, das seine Gefühlslage als mittelmässig bis schlecht beschreiben wird, Anzeichen einer Angststörung oder Depression aufweist und also zu der «ängstlichen Generation» gehört, die gemäss der jüngsten Ergebnisse der Stadtzürcher Schülerinnen- und Schülerbefragung heranwächst. Ich denke manchmal, dass ich so ein Kind habe. 

So ist es ihm oft zu laut, dem Kind. In der Klasse kann es sich deshalb schlecht konzentrieren und flüchtet sich dann ins sogenannte U-Boot, einen Raum im Schulhaus, in dem man in Ruhe arbeiten kann – was natürlich nicht immer geht, und so muss es doch im Schulzimmer bleiben, während vieler Lektionen, inmitten von Kindern, die es durch das ständige Reden, Dreinschwatzen, Aufstehen und Rumlaufen in die Verzweiflung treiben. Das Kind will auch unter keinen Umständen mehr in den Hort. Die Horden Kinder, die sich dort auf den Zmittag stürzen, wieder der Lärm, und die anzahlmässig begrenzten Tickets für den Chillraum – der ruhig ist, aber eben nur einer bestimmten Menge Kindern zur Verfügung steht, die sich Tag für Tag immer aufs Neue ein Ticket ergattern müssen – bringen es schon lange vor der Mittagspause in eine Anspannung, die es überfordert. Das Kind hat gerne Bezugspersonen, die kon­stant da sind. Das hat es aber nicht, eher gibt es Stellvertretungen von Stellvertretungen. 

Mein Kind ist ein Kind wie viel zu viele andere aus dieser ­Umfrage, denen es schlicht zu viel ist.

Die Umfrage sagt: Die Schüler:innen sind in der Gesellschaft einfach nicht wohl, jedes zwanzigste Mädchen und jeder fünfzigste Knabe hat schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen. Das Vertrauen in die Lehrpersonen ist markant gesunken. Das Gefühl von Sicherheit in der Schule nimmt ab. Die Schulschwänzerquote steigt. Die Belastung durch Prüfungen und Noten ist zu stark. Bereits eine Pro Juventute-Studie von vor zwei Jahren zeigte auch schweizweit ein ähnliches Bild: Ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz stehen unter viel zu hohem Stress. Hauptstressfaktor ist die Schule. Was sind die Lösungsansätze und Forderungen?

Sensibilisierung wird in Aussicht gestellt. Die schulpsychologischen Sprechstunden sollen ausgebaut werden. Das Programm zur Früherkennung von Depressionen angepasst, Stressbewältigungsstrategien in den Schulen gelernt werden. Und es brauche mehr Psycholog:innen in Behandlungszentren und an Schulen. Und sogar der Kantonsrat hat einstimmig beschlossen, dass der Regierungsrat die Initiative «Gesunde Jugend jetzt!» umsetzen muss, will heissen, psychische Erkrankungen sollen besser behandelt und früher erkannt werden. Ich habe so ein Kind. Jedenfalls denke ich das manchmal. Und das Letzte, was es braucht, sind mehr Psycholog:innen, ausgeklügelte Stressbewältigungsstrategien, niederschwellige Sprechstunden oder einen garantierten Platz in der Jugendpsychiatrie. Und ich meine das wörtlich: diese Dinge sind das Letzte, was mein und andere Kinder brauchen. Ich will, dass es gar nicht so weit kommt. Die wirklich wichtigen Massnahmen und Forderungen müssten viel früher und anderswo ansetzen.

Wenn mein Kind in eine Klasse gehen könnte, in der es nicht 25 Schüler:innen hat, sondern viel weniger, in der Lehrpersonen unterrichten, die bleiben, weil es kein Burnout-Job mehr ist, wenn es in einen Hort gehen kann, in dem die räumlichen Verhältnisse auf die Anzahl Kinder ausgerichtet sind und wenn der Schulstoff und die Präsenzzeit auf ein vernünftiges Mass reduziert werden, dass das alles auch ohne psychologische Unterstützung, Stressbewältigungsstrategien, Chillräume und U-Booten geht, wäre es meinem Kind und vielen anderen Kindern vielleicht gar nicht mehr zu viel. Jedenfalls ­denke ich das manchmal.

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