Skandalisierung: Ein Lehrstück

Eltern wissen: Erziehung ist kein Zuckerschlecken. Und man ist immer wieder mit Unsicherheiten konfrontiert. Zur Erziehung gibt es eine Reihe von Ratgebern und Philosophien, die sich aber auch oft im Kern widersprechen. Und ausserdem hat noch Krethi und Plethi eine Meinung dazu, gerne auch ungefragt. Vermutlich ist damit auch der Erfolg von Remo Largo zu erklären, der in seinen Büchern eigentlich vor allem zwei Hauptbotschaften hat: Jedes Kind ist anders und fast alles ist normal. Was einen erst einmal kolossal beruhigt. Und für alles andere gibt es Beratungsstellen. Zum Beispiel die Mütter- und Väterberatungsstelle der Stadt Zürich. Diese berät Eltern von Kindern bis zu fünf Jahren bei konkreten Problemen oder Fragen und widmet sich in einem regelmässigen Newsletter auch immer wieder diesen Themen. So weit, so unbestritten.

Bis die Mütter- und Väterberatungsstelle sich in ihrem jüngsten Newsletter dem Thema «gendersensible Erziehung» widmete. Sie ahnen vielleicht, liebe Leserin und lieber Leser, was da kommt. Und tatsächlich: Aufregung, Diskussion und Empörung. Ein bisschen von der NZZ und etwas mehr von SVP-Kantonsrätin und Anti-Gendersternaktivistin Susanne Brunner. Im Kern der Empörung: ‹S’ Mami› soll durch das Wort Elternteil ersetzt werden. Die NZZ schreibt: «So wird den Eltern (im Newsletter) unter anderem empfohlen, wenn sie mit ihren Kindern über andere Familien reden, neutrale Bezeichnungen wie Elternteil oder Betreuungsperson zu verwenden. Das Mami der Schulfreundin Mia wäre im Gespräch mit der Tochter dann also der «Elternteil von Mia» oder die «Betreuungsperson von Mia». Susanne Brunner findet dies «völlig alarmierend und lebensfremd». Es sei sowieso fraglich, ob es Aufgabe der Stadt sei, Eltern in Erziehungsfragen zu beraten. In schwierigen Fällen könne dies berechtigt sein, aber allgemeine Erziehungstipps seien nicht angebracht. Und der jüngste Newsletter sei eine Anleitung für eine Erziehung zur Auflösung der Geschlechter.  

Christina Neuhaus, NZZ-Inlandchefin und von der Schreibenden im Allgemeinen hochgeschätzte Journalistin, spitzte auf X (vormalig Twitter) zur Ankündigung des Artikels noch etwas zu: «Die Mutter eines Kindergartenfreundes ihrer Tochter holt heute ab. Sagen Sie nun ‹S’ Mami vom Tim holt eu hüt ab?› Bitte nicht! Der Begriff «Mami» soll durch «Elternteil» ersetzt werden, findet die Betreuendenberatung der Stadt Zürich.» Nun denkt sich natürlich wohl fast jeder – ob Mami, Papa oder Elternteil – dass dies wohl schon ein bisschen übertrieben sei. Die Stadt Zürich im Woke-Wahnsinn, einmal mehr. Nun bin ich tatsächlich Abonnentin des besagten Newsletters, den ich manchmal mit Interesse – und eher häufiger gar nicht – lese. Aus Neugier habe ich also in meinen Mails den Newsletter gesucht und gefunden. «Immer öfter hört oder liest man von Eltern, die ihre Kinder geschlechtersensibel erziehen. Doch was bedeutet das genau? In diesem Newsletter gehen wir dem Ansatz der geschlechtsoffenen Erziehung auf den Grund.» So beginnt der Newsletter. Darin hat es vier Beiträge. Der erste behandelt den Wandel der Rollen innerhalb einer Familie aus historischer Sicht. Die Quelle dazu ist ein Artikel aus ‹NZZ Geschichte›. Im zweiten Beitrag geht es um die UNO-Kinderrechtskonvention. Bis anhin also kaum etwas, was Anlass zu Anstoss geben könnte. Im dritten Beitrag geht es dann also um den Casus Belli, die «gendersensible Erziehung». Wie also gendersensible Erziehung gelingen könnte. Dazu wird auf die Publikation «Was wird es denn? Ein Kind! Wie geschlechtsoffene Erziehung gelingt» von Ravna Marin Sievers verwiesen. Darin sind auch Tipps für den Alltag erhalten. Zum Beispiel, dass man in einer Familie auch einmal bewusst zugeschriebene Rollen und Zuständigkeiten tauschen könne. Oder dass man Interesse an den Gefühlen und Bedürfnissen des Kindes zeigen solle. Der Stein des Anstosses sind wohl die zwei Tipps: «Wenn Sie von anderen Familien reden, können Sie neutrale Bezeichnungen wie z.B. Kind, Elternteil oder Betreuungsperson verwenden.» Und: «Bewegen Sie sich als Familie in unterschiedlichen sozialen Umgebungen (z.B. Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien, alleinerziehende Familien usw.). Sprechen Sie darüber.» Zuletzt gibt es noch ein Interview mit einer Dozentin der Pädagogischen Hochschule zum Thema. 

Nun kann man gendersensible Erziehung unnötig finden oder die dort aufgebrachten Praxistipps nicht praktikabel. Kaum jemand wird wohl vom Elternteil von Mia sprechen, wenn man weiss, dass es Mias Vater ist, der das Kind abholt. Und die unterschiedlichen sozialen Umgebungen ergeben sich ja letztlich auch aus der Realität. Nur ist die ganze Geschichte keine Anweisung, sondern allerhöchstens ein Angebot. Wer sich für das Thema «gendersensible Erziehung» interessiert, kann diese Artikel lesen und sich dazu Gedanken machen. Wer nicht, der lässt es. Wäre ja eigentlich ganz einfach.

Aber so einfach ist es leider nicht, wenn es um das Reizthema «Gender» geht. Und das angeblich verschwindende Mami ist hier nicht der einzige Fall. Ein anderes Beispiel: Der Gender-Tag in Stäfa, der seit Jahren ohne Probleme durchgeführt werden konnte und dieses Jahr ausfallen musste aufgrund von Sicherheitsbedenken. SVP-Politiker:innen hatten diesen Tag in den sozialen Medien angegriffen. Das Problem: Es geht bei diesen Diskussionen selten bis nie darum, echte Bedenken und Fragezeichen, die es vielleicht geben kann und geben darf, ernsthaft zu diskutieren, die jeweiligen Standpunkte zu verstehen oder wenigstens anzuhören. Sondern letztlich darum, alle Gleichstellungsanliegen ins Lächerliche oder Absurde zu ziehen. «Flood the zone with shit» (Flute die Zone mit Sch…) wie es Donald Trumps früherer Chefberater Steve Bannon als Devise formuliert hat. Das Ziel ist dabei nicht in erster Linie zu überzeugen, sondern vor allem den Leuten die Lust am Thema und der Diskussion zu nehmen. Was auch funktioniert. 

Dabei wäre – wie bei der Kindererziehung – wohl etwas mehr Pragmatik und Unaufgeregheit angebracht. Familien und Erziehungsstile unterscheiden sich, sind nie perfekt und dennoch in der Regel gut gemeint. Und auch wenn es sonst heisst, dass gut gemeint das Gegenteil von gut sei, denke ich hier, dass gut gemeint gut genug ist.

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.