Sägs doch eifach lieber nöd!

Vielleicht wäre es langsam an der Zeit, mein Twitter-Konto zu löschen. Und das nicht bloss wegen Elon Musk. Der Tesla-Milliardär hat es zwar geschafft, die Plattform nach seiner 44-Milliarden-Dollar-Übernahme dank rigorosem Stellenabbau in Rekordgeschwindigkeit zu einer instabileren, unsichereren und von Bots übersäten Zweiklassengesellschaft aus Gratis- und Premium-Nutzer:innen zu verwandeln, aber eines muss man ihm lassen: Der Twitter-Algorithmus erfüllt seinen Zweck, und er ist mir auf die Schliche gekommen. In meinem Fall heisst des Pudels Kern «Hatescrolling»: Neben Musks eigenen Posts, die oft zwischen Anbiederung an die amerikanische Alt-Right und dem Fischen nach Anerkennung oszillieren, besteht mein Twitter-Feed mittlerweile zu einem grossen Teil aus Beiträgen, die ein einziges Ziel zu verfolgen scheinen: mich wütend zu machen.

In den letzten Wochen hat sich der besagte Algorithmus eine besonders perfide Masche einfallen lassen: Gefühlt jeder zweite Post, der mir angezeigt wird, zeigt die eher schlecht als recht ausgeschnittene Büste eines rechten Politikers oder einer rechten Politikerin mit einem kernigen Zitat daneben: «Die Menschheit kennt zwei Geschlechter. Punkt.», ist sich zum Beispiel ein Jungpolitiker der SVP sicher, ganz ungerührt vom wissenschaftlichen Konsens, der dieser Aussage widerspricht. Gleich darunter bezeichnet ein anderer prominenter Akteur der Jungen SVP den menschengemachten Klimawandel als «etwas zwischen einem schlechten Märchen und Blasphemie» – auch er lässt sich offenbar nicht von der Einmütigkeit in der Wissenschaft beeindrucken, geschweige denn vom mit Naturkatastrophen gespickten Sommer (dass der Klimawandel ein Hauptfaktor für die Häufung und Intensität  von extremen Wetterereignissen der letzten Jahre ist, ist wissenschaftlich belegt – und die Berichte des Weltklimarats (IPCC) aus den Jahren 2013 und 2022 kommen zum Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit von Hitzewellen, Dürren, Waldbränden, Überschwemmungen und Stürmen in den nächsten Jahren noch weiter zunehmen wird).

«Sägs eifach!» heisst sie, die Kampagne, mit der die Junge SVP den Linken und Netten das Sprachdiktat entreissen will. Eine Kampagne für die Meinungsfreiheit, gegen Woke-Wahnsinn, Gender-Gaga und andere eingängige Stabreime. Denn insbesondere Junge und bürgerlich gesinnte Menschen trauen sich nicht mehr, ihre Meinung zu sagen, liest man auf der Website der Partei. Der Clou der Kampagne: Nicht nur die JSVP-Büsten, sondern auch die Normalbürger:innen dürfen, ja sollen, mitmachen. Per Videobotschaft oder Text können Interessierte einsenden, was sie schon immer mal sagen wollten – ganz egal, was, Hauptsache, es kommt von Herzen und Hauptsache, es wird endlich offen diskutiert. So bleibt auch Platz für Beiträge, die einen zum Schmunzeln bringen: «Steuern sind Raub», schreibt zum Beispiel der Präsident einer libertären Kleinstpartei. Oder «Rechts von uns darf es nichts geben», wie ein JSVP-Mitglied fordert. Ob mit der Einsendung ein Rechtsruck der SVP oder (trotz Listenverbindungen) das Verbot von EDU, Mass-Voll und Co. verlangt wird, bleibt unklar. 

Es sind übrigens auch Personen, die nicht auf JSVP-Linie sind, herzlich eingeladen, sich an der Kampagne zu beteiligen. Gemäss dem Twitter-Account der Partei hat dieses Angebot bis jetzt immerhin eine Person wahrgenommen. «Ich finde, die Junge SVP trägt mit ihrer Politik dazu bei, dass Hassverbrechen begangen werden», schreibt der anonyme Einsender. In der Kommentarspalte gibt es dafür einige Zustimmung, aber auch Antworten wie «Mach dich vom Acker» oder «Hatespeech is the price for free speech». Letzterer Kommentar stammt vom vorher erwähnten Präsidenten der libertären Kleinstpartei, der nichts von Steuern hält. Allzu gut scheinen gewisse (freie) Meinungsäusserungen auch in den Kreisen, die sie als oberstes Gut behandeln, nicht anzukommen – je nach Inhalt der Äusserung halt. 

Die Kampagne wirft bei mir gleich eine ganze Reihe Fragen auf. Erstens: Wo ist denn die freie Rede in der Schweiz überhaupt eingeschränkt? Es reicht ein Blick auf mein Twitter-Feed, um die haarsträubenden Meinungen und immergleichen Slogans («Es kommen zu viele und die Falschen» etc.) zu sehen, die tagtäglich problemlos frei geäussert werden. In einer Demokratie ist die Meinungsfreiheit ein hohes Gut. Sie ist wichtig, um kritisches Denken und Meinungsvielfalt zu fördern. Was an dieser Stelle aber oft missverstanden wird: Die Freiheit der Meinungsäusserung schliesst die Freiheit von Kritik nicht aus, sie ist nicht absolut und sie ist kein Freibrief für Hass und Hetze. Die Junge SVP behauptet, dass junge und bürgerlich gesinnte Menschen sich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu sagen. Doch ist das wirklich der Fall? Ist es nicht eher so, dass sich diese Menschen nicht mehr trauen, ihre Meinung in einem Raum zu sagen, in dem sie auf Ablehnung und Kritik stossen?

Die zweite Frage, die ich mir stelle: Die JSVP sollte doch als Jungpartei frischen Wind und neue Ideen liefern – warum spielt sie also diese uralte Leier von der freien Meinungsäusserung?  Schon vor gut 30 Jahren stemmte sich die SVP mit ihr erfolgreich gegen die Antirassismus-Strafnorm, und zwölf Jahre später bezeichnete sie Christoph Blochers Verurteilung wegen Verleumdung als Angriff auf die Meinungsfreiheit. Meine dritte Frage liefert vielleicht auch gleich die Antwort auf die zweite. Warum ist die Junge SVP eigentlich immer so konträr? Man könnte fast meinen, sie sei gar nicht daran interessiert, ein originäres Programm oder konstruktive Lösungen zu finden. Und man könnte meinen, es gehe auch bei der Sägs-Eifach-Kampagne einzig darum, Kon­troverse und Aufmerksamkeit zu schüren. 

Apropos kontrovers: Auf ihrer Website schreibt die JSVP, dass die Partei am Ende selbst entscheide, ob eine Einsendung veröffentlicht werde. Irgendwie klingt das doch nach Bevormundung und Zensur, ja fast nach einer Beschneidung der freien Meinungsäusserung, wie man sie doch eigentlich nur aus der linken Woke-Bubble kennt!

Noch habe ich mein Twitter-Konto nicht gelöscht. Nicht nur, weil ich vermutlich ein bisschen süchtig bin, sondern auch, weil ich den Wert darin sehe, mich mit Meinungen auseinanderzusetzen, die nicht unbedingt meinen eigenen entsprechen. Und ab und zu finde ich, wie ich beim Verfassen dieses Textes gemerkt habe, auf Twitter ja trotzdem noch ein paar Beiträge, die mich zum Lachen bringen.
In diesem Sinne: Steuern sind Raub!

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