Relevante Themen, gute Stimmung und eine «Power-Fraktion»

Mehr Klimaschutz, mehr Biodiversität, Solarpanels auf allen Dächern und eine Gesellschaft, die frei von Diskriminierung ist: Das schwebt den Grünen vor. Glaubt man der ersten Wahlumfrage, greifen sie am 22. Oktober allerdings nicht nach den Sternen: Saufen sie gar ab? Porträt einer Partei im (Klima-)Wandel.

Es ist Samstagmittag in Schwamendingen, der erste Samstag im September, und es ist Chilbizeit. Berühmt ist sie, die Schwamendinger Chilbi, und so kurz vor den Wahlen sind natürlich alle da: Unüberhör- und -sehbar das Festzelt der SVP, wer gern schunkelt, ist dort richtig. Bei der SP gibts Speis und Trank, bei der FDP auch, wobei dort der Käse aussieht, als wäre er genauso gut in der prallen Sonne geschmolzen wie im Raclette-Öfeli. EVP und Mitte haben ihre Stände, die Grünliberalen locken mit lokalem Bier und – geschäftstüchtig, wie sie sind – mit gratis Popcorn dazu. Und die Grünen? Die muss die Auswärtige aus dem Kreis 4 ein bisschen suchen, der Stand ist in der zweiten Reihe versteckt. Wobei, samstags über Mittag ist der Andrang dort aus verständlichen Gründen überschaubar: Die Grünen betreiben an der Schwamendinger Chilbi seit zehn Jahren ihre Mojito-Bar, und die läuft nun mal am besten nach Sonnenuntergang, wenn DJ oder DJane an den Reglern stehen und für guten Sound sorgen.

Mehr Mitglieder

Natürlich ist die Grüne Prominenz trotzdem vor Ort, also frisch drauflosgefragt: Was ist den Grünen wichtig in diesem Wahlkampf, womit wollen sie die Wähler:innen überzeugen, und wie schaffen sie das? Anna-Béatrice Schmaltz, die Präsidentin der Grünen Stadt Zürich und Gemeinderätin aus dem Kreis 3, will «gegen die Hetze von Rechts» vorgehen: «Es geht nicht nur um Vielfalt, sondern um Menschenrechte!», hält sie fest und verweist auf die Liste LGBTIQ+.

Die Grünen treten auf vier Listen an: Grüne (Liste 3), LGBTIQ+ (Liste 28), Für nachhaltiges Wirtschaften (Liste 31), Junge Grüne – Klima vor Profit (Liste 10). Doch birgt die LGBTIQ+-Liste nicht die Gefahr, dass die Kandidat:innen, die sich dort versammeln, vor allem als ‹speziell› hingestellt und so von der Hauptliste ferngehalten werden? Anna-Béatrice Schmaltz kandidiert ja auch auf letzterer, auf dem ersten Platz nach den fünf Bisherigen, obwohl sie als Junge Grüne aufgeführt wird und sich im Gemeinderat bei LGBTIQ+-Themen engagiert. Von «auslagern» könne nicht die Rede sein, findet sie, viel eher von «sichtbar machen»: «Auch auf der Hauptliste finden sich queere Menschen. Es geht uns darum, ein Zeichen zu setzen und darauf hinzuweisen, dass es in Sachen Gleichstellung noch viel zu tun gibt» – und nein, damit sei nicht gemeint, «auf dem Rücken von marginalisierten Personen Scheindebatten über Gendersternchen» zu führen. Vielmehr sammeln die Grünen Kanton Zürich für die Wohnungsinitiative und zusammen mit der SP für die Klimafondsinitiative, und bei den Grünen Schweiz sind die Solarinitiative und die Demokratie-Initiative im Tun. Im Nationalrat möchte Anna-Béatrice Schmaltz wichtige Themen aufgreifen und in diesem Parlament mit seiner bürgerlichen Mehrheit auf Kompromisse hinarbeiten: «Je mehr Menschen uns wählen, desto mehr können wir erreichen!»

Catalina Gajardo Hofmann, Co-Präsidentin der Grünen Kreis 11/12 und damit an der Mojito-Bar an der Schwamendinger Chilbi sozusagen die Hausherrin, blickt diesbezüglich optimistisch in die nahe Zukunft: «Unsere Kreispartei ist seit letztem Herbst am Wachsen.» Das sei nicht weiter verwunderlich – erste Umfrage zum Trotz: «Themen wie Klima, Biodiversität und soziale Gerechtigkeit sind relevant, und wir haben uns in den letzten vier Jahren gut positioniert.» Entsprechend gut sei die Stimmung in ihrer Kreispartei, fügt sie an.

Einblick in die «Power-Fraktion»

Wie sieht es diesbezüglich in Bundesbern aus? Nationalrätin Marionna Schlatter führt die Liste 3 an und gibt gern Auskunft über das, was sie die «Power-Fraktion» nennt: Nach der Klimawahl vor vier Jahren wuchs die Fraktion der Grünen stark an. Das Beste daran sei aber, dass es sich bei den vielen Neuen durchwegs um Menschen handle, die «seit Jahrzehnten aktiv Politik machen» und/oder die sich schon ebenso lange als Professor:innen auf einem für die Grünen relevanten Gebiet profiliert hätten. 

Dennoch: Auch mit stark vergrösserter Fraktion sind die Grünen bekanntlich noch lange nicht an der Macht. Ob das auf die Stimmung drückt? Marionna Schlatter gibt zu bedenken, die Grünen könnten zwar bei einigen Themen nur die Opposition markieren, doch das Parlament habe sich verändert, auch dank der grösseren Präsenz der Grünen. Und ja, «manchmal finden uns die anderen mühsam, manchmal sind wir die, die nerven und stören. Doch umgekehrt haben wir den Laden mit unserer Kraft und Präsenz aufgemischt.» Den Grünen gelinge es immer wieder, Zeichen zu setzen, etwa in der Sicherheits- oder in der Verkehrspolitik. Und manchmal schafften sie mehr als das: «Ohne die parlamentarische Initiative von Bastien Girod beispielsweise gäbe es heute keinen massiven Fortschritt für den Ausbau der Erneuerbaren mehr. Es gelingt uns immer wieder, unsere Themen aufs Tapet zu bringen, und von einer Position aus, die nicht mehrheitsfähig ist, schlussendlich einen Kompromiss zu erreichen.»

Das habe auch damit zu tun, dass die Grünen «immer bereit» seien, sagt Marionna Schlatter. Beziehungsweise der Zeit voraus: «Als ich vor 20 Jahren zu den Jungen Grünen ging, forderten wir eine Solarpflicht auf allen Dächern.» Auch viele anderen ihrer aktuellen Forderungen hätten die Grünen schon vor Jahren erstmals gestellt: «Das führt dazu, dass wir heute extrem bereit sind, wenn eine unserer Ideen gute Chancen hat, in weiteren Kreisen auf Zustimmung zu stossen. Wir können praktisch aus dem Stand loslegen.» Die Grünen arbeiteten wo immer möglich mit anderen zusammen, «nicht nur mit der SP». Vor allem aber seien alle Fraktionsmitglieder gut vernetzt, insbesondere die Nationalrät:innen in der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie (UREK), wo neben Bastien Girod der Thurgauer Kurt Egger besonders hervorsteche, sagt Marionna Schlatter: «Er kann zu jeder Vorlage alle relevanten Zahlen aus dem Ärmel schütteln.» Kurz: Die Grünen hätten sich auf nationaler Ebene zu einer eingespielten Truppe mit einem bestens aufgestellten Sekretariat entwickelt.

Nichtsdestotrotz verschweigt Marionna Schlatter die «Herausforderungen» nicht: «Auch vielen politisch interessierten Menschen ist nicht klar, dass wir in der Schweiz stets eine bürgerliche Mehrheit hatten und dass sich das trotz der Klimawahl 2019 nicht geändert hat. Wir müssen unsere potenziellen Wähler:innen davon überzeugen, uns trotzdem erneut ihre Stimme zu geben.» Eine Schwierigkeit dabei, die Marionna Schlatter nicht an die grosse Glocke hängen will, sei hier trotzdem ausgedeutscht: Sie ist die einzige Nationalrätin aus dem Bezirk Hinwil, doch im ‹Zürcher Oberländer› war noch nie ein Porträt über sie oder ein Interview mit ihr zu lesen. Man stelle sich kurz vor, sie wäre bei der SVP…

Feindbild Klimakleber?

Ein anderes Thema hingegen beschäftigt sowohl sie wie auch die Co-Präsidentin der Grünen Kanton Zürich, Selma L’Orange Seigo, oder Bastien Girod in seiner Kolumne im P.S. von letzter Woche: die «Klimakleber». Bastien Girod schrieb unter anderem, die Klimakleber nervten die falschen Leute: «Manch einer wird aus Trotz SVP wählen.» Selma L’Orange Seigo findet es zwar «nicht lässig, wenn wir in den gleichen Topf geworfen werden wie die Klimakleber». Umgekehrt sei es aber auch billig, auf diesen herumzuhacken: «Es gibt keinen Schuldigen. Wir müssen uns gemeinsam anstrengen und als Gesellschaft etwas gegen den Klimawandel tun.» Vor vier Jahren hätten sich die Leute darüber aufgeregt, dass Schüler:innen vors Rathaus zogen und die Schule schwänzten, fügt sie an. Aber auch sie ärgert sich, dass Klimakleber die Falschen träfen: «Der Büezer auf dem Heimweg sollte nicht unter solchen Aktionen leiden müssen.» Marionna Schlatter ergänzt, alle wüssten, «dass die Klimaaktivist:innen recht haben und wir mehr fürs Klima machen müssten». Doch es gebe verschiedene Arten, sich mit einem Thema zu befassen: Einige provozierten mit solchen Aktionen, andere machten institutionelle Politik, so wie sie selber.

«Hauptprobe schlecht, Konzert gut»

Und wie steht es nun mit den Chancen der Grünen? Wie gross bleibt die grüne Vertretung in Bern? Auf die erste Umfrage angesprochen, erklärt Selma L’Orange Seigo, es sei wie in der Musik: «Wenn die Hauptprobe schlecht läuft, wird das Konzert gut.» Es sei allen klar, dass diese Wahlen «kein Selbstläufer» seien: «Wir wissen, dass wir alles geben müssen.» Sich durch eine Umfrage entmutigen zu lassen, sei aber kein Thema. Der Wahlkampf laufe gut, und wenn sie den potenziellen Wähler:innen erklärten, dass eine «Grüne Welle» im Schweizer System noch lange keine Mehrheit mache, dann komme das an. «Wir erreichen viele Junge und viele Frauen, und selbst wenn einem die kantonalen Themen eigentlich näher sein müssten, ist es bei nationalen Wahlen einfacher, zu mobilisieren», hat die Co-Parteipräsidentin festgestellt: «Das liegt sicher daran, dass unsere Themen relevant sind.» Wobei auch die Grünen diesbezüglich mitunter angefeindet werden: Die kommen immer wieder mit dem Klima, das nervt! «Ja, das wirft man uns manchmal vor», sagt Selma L’Orange Seigo. «Mir ist allerdings nicht ganz klar, weshalb das ein Problem sein soll: Die SVP bringt bekanntlich seit Jahren immer die gleichen Themen.» Wo sie recht hat…

Nachtrag: Am Mittwochabend kam das neuste Wahlbarometer der SRG heraus. Es prognostiziert den Grünen ein Minus von 2,5 Prozent – heisst einen Wähler:innenanteil von 10,7 Prozent. Balthasar Glättli, Präsident Grüne Schweiz, kommentiert das Wahlbarometer auf Anfrage wie folgt: «Schon vor vier Jahren war die Schlussmobilisierung entscheidend für die Wahlen. Noch im allerletzten Wahlbarometer elf Tage vor dem Rekordergebnis von 13,2 Prozent wurden den Grünen bloss 10,7 Prozent vorhergesagt – diesen Zwischenstand haben wir nun bereits einen Monat früher erreicht und sind wieder auf dem aufsteigenden Ast.»

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