Rechtsstaatliche Leichtigkeit

Von allen möglichen Redensarten gehörte der Spruch «Es gibt keine Regel ohne Ausnahme» seit jeher zu den von mir am meisten verabscheuten. Erstens kam es mir immer vor wie eine Ausrede (wahlweise von LehrerInnen, Vorgesetzten, Eltern und anderen dieser Sorte) und zweitens gehöre ich mit viel Leidenschaft zur Fraktion jener, die es gerne klar und einfach und unmissverständlich haben. Aus diesem Grund habe ich eine Schwäche für Grammatik und eben jene Regeln, die ohne Ausnahmen auskommen. Zum Beispiel den Apostroph, der nur und ausschliesslich angewendet wird, wenn er einen Laut oder einen Buchstaben auslässt, sei dies im Genitiv oder im Imperativ oder in der schönen Form des «’s», wenn das Wörtchen «es» abgekürzt wird. Es gibt keine Ausnahme, weshalb mir Konstruktionen wie «Leo’s Bistro» regelmässig Schweissausbrüche bescheren sowie das dringende Bedürfnis, mit einem fetten Stift an Wirtshausschildern rumzuwerkeln.

Auch anderswo, also ausserhalb der Grammatik, gibt es schöne Regeln ohne Ausnahme, was mir eben gerade wieder deutlich wurde, als ich mich durch die Artikel zum Fall Rupperswil las und vor allem durch die Kommentarspalten pflügte.

In der ‹Aargauer Zeitung› erschien ein Artikel zur Verteidigerin des Täters, die von der Oberstaatsanwaltschaft eingesetzt wurde. Nun empörten sich die Leserinnen und Leser in vielen Kommentaren darüber,  dass es hier überhaupt noch etwas zu verteidigen gäbe. «Unser Strafrecht in Ehren», schreibt einer, «aber was muss da noch verteidigt werden»? Es sei absolut beschämend und verwerflich, ein Schlag ins Gesicht der Hinterbliebenen und eigentlich müsste man den Täter wie früher in einen Turm sperren, bei Wasser und Brot und ohne Licht.

Ich habe für diese Turmphantasie ein gewisses Verständnis und es fällt auch mir einiges ein, was man mit diesem Menschen machen könnte, vieles, was strafrechtlich wiederum relevant wäre und gar nichts mit ‹Verteidigung› zu tun hat. Dann aber habe ich mich erinnert an einen eigenen, kleinen Moment der Erleuchtung vor vielen Jahren, der mir eine radikale Rechtsstaatlichkeit bescherte und eine weitere Regel ohne Ausnahme.

Es ging um den Fall eines Polizisten, der einen Pädophilen überführt hatte und dann selbst vor Gericht stand. Er hatte sich nämlich im Rahmen dieser Ermittlungen in verschiedenen Fällen strafbar gemacht und wurde schliesslich verurteilt. In einer kleinen Runde opferte ich lautstark den Rechtsstaat, indem ich mich über diese Ungerechtigkeit aufregte und hielt fest, dass bei der Verfolgung von Pädophilen jedes – auch illegales – Mittel recht sein müsse, was ein anwesender, damals wie heute befreundeter Jurist während mehr als einer Stunde so donnernd widerlegte, dass mein Leben in Bezug auf das Rechtssystem unseres Landes um ein Vielfaches leichter geworden ist.

Diese Leichtigkeit tut manchmal weh. Gerade jetzt, wenn man fassungslos ist ob einer Grausamkeit, die ganz nahe vom eigenen Zuhause passiert ist und ein gerechtes Verfahren das letzte ist, was man sich für diesen Täter wünscht. Oder dann, wenn ein türkischer Despot einen deutschen Satiriker anklagen darf, einfach weil es in einem Rechtsstaat so ist, ganz egal, ob der Absender Menschenrechte mit Füssen tritt oder sonst Dreck am Stecken hat.

Aber so ist das. Der Rechtsstaat kennt keine Ausnahme. Der Rechtsstaat kennt Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Und alle diese gelten für alle gleich.

Und wenn es einem auch schwerfällt, diesen Rechtsstaat für Arschlöcher zu verteidigen, so ist das doch der Preis, den wir zahlen müssen. Denn wir sind, von Abstimmung zu Abstimmung, mal mehr und mal weniger akut, in der Abwehrschlacht gegen jene, die verschiedenes Recht für verschiedene Menschen wollen. Wir tun gut daran, hier keine Ausnahmen zuzulassen. Weder in die eine, noch in die andere Richtung.

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