«Pietät ist schon verdammt wichtig»

Reflexe altern schlecht, respektive bleiben in ihrer Entwicklung während der Pubertät stehen. Mike Müller lädt zum «Klassentreffen» und zelebriert das allseitige Bemühen, eine bella figura abzugeben. Wider Erwarten gereicht dies häufig nicht zum eigenen Vorteil.

Die Gemeinschaft ist wie bereits im Vorgängerprogramm der «Gemeindeversammlung» sehr überschaubar. Das Dorf ist klein, alle wissen alles voneinander. Und vergessen, geschweige denn vergeben, wird nicht. Wer früh die Fortüne in der Fremde suchte, ist untendurch, wer spät zum Kollektiv stiess, bleibt für immer fremd. Trotz allem trifft sich der Jahrgang kurz vor seinem Sechzigsten, lässt eine nachmittägliche Visite der neuen Glacéfabrik von René über sich ergehen und ist kurz vor 20 Uhr, wenn das Trinken nachlassen wird, weil selbst bezahlt werden muss, redlich darum bemüht, ein weiteres Eskalieren abzuwenden. Ruth, die für den Kantonsrat kandidiert, steht zuvorderst, wenns ums Organisieren geht, weil jedes Licht, das auf ihren bescheidenen Leistungsausweis fällt, all die Schatten der Vergangenheit vergessen lässt. Andi, der Co-Leiter des Treffens wiederum ist peinlich darum besorgt, dass seine überragende Karriere in Beruf, Politik und Militär gerade nicht an die grosse Glocke gehängt wird. Nur keine Neider wecken, schon gar keine schlafenden Hunde. 

Neurosenkarussell

Damits nicht in eine Egoshow ausartet, schlägt Ruth vor, die ehemaligen Schüler:innen sollen sich zu Zweierteams sammeln, und nach einem 15-minütigen Austausch solle der/die jeweils andere den/die eine im Plenum vorstellen. Eine von Rafael Sanchez inszenierte – ewige – Minute der Stille lässt das zur Unterhaltung angereiste Pu­blikum einen Augenblick lang diese Mélange aus peinlicher Berührtheit und orientierungsloser Unlust zur Teilhabe spüren. Dann gehts Schlag auf Schlag. Nur Rolf schläft seinen Rausch aus, weil die Glacéfabrik auf dem Terrain seines konkursiten Autofriedhof zu stehen kam, und Xavier findet als immer schon Ausgeschlossener niemanden, der mit ihm ein Paar bilden will. Toni hat endlich das Toupet tragen aufgegeben, Erika übernimmt die Vorstellung von sich und ihrem Mann Urs gleich selbst – «gäll Urs, Urs!» –, Andi wartet seit 35 Jahren auf seine Pensionierung, Romano hat sich bis in die Auswahl von Inter Mailand gekickt, für «es Tschinggeli» eine reife Leistung, und selbst Franziska, die als jung dem Tour-de-Suisse-Sieger den Blumenstrauss überreichen durfte, ist als gealterter heisser Feger noch immer überraschend lau. Keine Peinlichkeit ist zu gering, um nicht erwähnt, ja regelrecht ausgekostet zu werden. Der Hang zur Häme ist offenbar ein nicht zu überschätzender Tiegel für ein Gemeinschaftsgefühl. Während der Vorstellungsrunde vermögen die meisten ihre Rachlust noch im Zaum zu behalten, doch kaum ist der offizielle Teil zuende und hat die ewige zugereiste Charlotte erklärt, sie würde auch für sämtliche künftigen Getränke aufkommen, bricht sich das Elend Bahn. Altlasten, unverarbeitete Kränkungen, Spott und Retourkutschen schiessen ins Kraut, dass sich die Sinnfrage eines solchen Stelldicheins bald einmal konkret stellt.

Nekrolog und Feuerwerk

Als Überraschungsgast ist der ehemalige Französischtyrann geladen, der heute in eine freundliche Demenz hinüberdämmert, während die ewige Pyromanin das Feuerwerk abenddramaturgisch ähnlich verquer einzig zur allgemeinen Ablenkung abfeuert, wie der Nekrolog als Feigenblatt der Gemütsberuhigung eingesetzt wird, damit der einmalige grosse Auftritt des ewig gemobbten und verspotteten Xavier nicht auch noch die verbleibende Restwürde der zusehends alkoholisiert enthemmten Meute killt.

Das Durcheinander ist bald nicht mehr kontrollierbar. Nur die vier Meier/Meyer/Maier/Mayer-Buben lassen sich nicht aus ihrem stoischen Gleichgewicht bugsieren. In ihrer simpel gestrickten Hemdsärmligkeit erscheinen sie zuletzt wie eine Erlösung. Und als der Patissier den fremdländischen Kellner dazu nötigt, den Druck zu erhöhen, das Dessertbuffet endlich aufbauen zu dürfen, weil sich sonst all die Mühe als umsonst herausstellen würde, ist niemandem in der Runde mehr nach Friede, Freude, Eierkuchen. Mike Müller wechselt die Rollen wie die Dialekte in einem heiden Tempo, und die Lacher folgen sich auf dem Fusse. Aber an sich ist «Klassentreffen» ein himmeltrauriger Abend respektive das Abbild einer durch und durch verkommenen Gesellschaft, die sämtliche Kniffe und Tricks eines Scheinriesentums bis zur Verinnerlichung eingeübt hat, nur damit so etwas wie eine Aufrichtigkeit, eine Empathie nicht aufgebracht werden muss. Wo kämen wir denn hin?

«Klassentreffen», 21. 10., Casinotheater, Winterthur. Daten: mike-mueller.ch

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