Paola will weg

Häusliche Gewalt, Obdachlosigkeit, Liebe und Hoffnung auf eine Rückkehr ins «Paradies». Ein Portrait einer suchtkranken Frau, die es nicht mehr sein möchte.

Am Montag ist es so weit. Dann packt Paola ihre Sachen und verlässt das ehemalige Gammelhaus an der Neufrankengasse, das während der letzten zwei Jahre ihr Zuhause war. Sie will weg vom beaufsichtigten Wohnen, weg vom Freebase und dem Diaphin, weg von der Langstrasse. «Ich gehe in die Psychiatrie und von dort aus suche ich mir eine Wohnung», lautet der Schlachtplan. Ob sie denke, dass es dieses Mal gut komme, frage ich, als wir uns in einer an einem vor Witterung und neugierigen Blicken der Polizei geschützten Plätzchen an der Europaallee treffen. «Inshallah, wie die Araber so schön sagen», antwortet sie. 

Vielleicht denkt die 43-Jährige dabei an ihren ersten Freund, Mounir* (Name geändert, richtiger Name der Redaktion bekannt). Ein Tunesier, den sie mit 20 in den Ferien in Saint-Raphaël kennenlernt. «Am 17. August 2000 war das.» Wenn Paola aus der Vergangenheit erzählt, weiss sie von jedem Ereignis das exakte Datum. «Ich habe einen Computer da oben», sagt sie schmunzelnd und zeigt auf ihren Kopf. 

Nach den Ferien holt Paola Mounir illegal in die Schweiz – ins Paradies, wie sie es nennt –, ein Jahr später heiraten sie, ohne Einverständnis der Eltern. «Wir haben uns geliebt», erzählt sie. «Zumindest ich habe ihn geliebt.» 

Drei Monate später beginnt Mounir Paola zu schlagen. Aus Eifersucht, oder weil sie nach der Arbeit in der Treuhandfirma gerne noch einen Joint rauchen wollte, bevor sie ihren erwerbslosen Mann bekochte. Nach drei Jahren trennen sie sich. Mounir fängt darauf an, Paola zu verfolgen, ruft täglich bei ihr im Geschäft an, droht, sie und ihre Familie umzubringen. «Wegen dieses Terrors hat das mit der Psyche angefangen», erinnert sie sich. Das mit der Psyche ist eine manisch-depressive schizoaffektive Störung – so lautet zumindest die Diagnose der Psychiater, als sie nach einem Streit mit Mounir das erste Mal in der fürsorglichen Unterbringung landet. «Ich habe in meiner Verzweiflung der Polizei gedroht, ich springe von der Europabrücke, wenn nicht sofort jemand vorbeikomme», erzählt Paola. «Ich wollte, dass sie endlich sehen, wie er mich behandelt, und dass sie etwas dagegen unternehmen.» 

Mit ihrer Diagnose ist Paola nicht allein. Gemäss einer Studie des Stadtärztlichen Dienstes litten im Jahr 2021 96 Prozent aller Personen, die in einer städtischen (betreuten oder beaufsichtigten) Wohneinrichtung leben, unter einer psychischen Erkrankung.

Mounir muss nach dem Streit vier Monate ins Gefängnis. Trotzdem leidet Paola in dieser Zeit unter Albträumen und Angstzuständen, traut sich im vermeintlichen Paradies fast nicht mehr aus dem Haus. Bis sie auf dem Perron des Bahnhofs Affoltern Boniface – Spitzname Toni –, den Vater ihres ersten Kindes kennenlernt. «Er war der liebste von allen», schwärmt sie. «Er hatte nichts mit Drogen am Hut, sein Tag bestand aus Kirche, Arbeit, und dann ab nach Hause.» Nicht einmal geraucht habe er. Ein guter, gläubiger Christ – vielleicht ein zu gläubiger für die Beziehung mit Paola, wie einige Monate nach der Geburt ihres Sohns klar wird: «Ich habe an einem Konzert einen Joint geraucht, den ersten seit Ewigkeiten, und wollte deshalb meinem Sohn keine Muttermilch geben.» Das ist für Toni inakzeptabel, und im Streit droht Paola erneut, sie springe. Dieses Mal aus dem Fenster und dieses Mal mit dem Baby. 

Auch wenn sie beteuert, dass sie nie und nimmer sich selbst, geschweige denn ihr Kind, verletzen würde, verliert sie in der Folge das Sorgerecht. Und weil Toni die Abschiebung nach Nigeria droht, wächst ihr Sohn in einer Pflegefamilie auf. Ich frage, ob sie diese (leeren) Drohungen bereue, während Paola sorgfältig eine Portion «Base» (Freebase-Kokain) und Zigarettenasche auf dem Kopf ihrer kleinen Glaspfeife verteilt. Bevor sie antwortet, zündet sie die Pfeife an, die weissen Brocken knistern, als sie inhaliert. «Jeden Tag», sagt sie nach einem langen Zug und einer kurzen Sprechpause. «Ich habe deswegen meinen Sohn verloren, und wegen all dem bin ich in die Drogensucht gerutscht. Aber diese Erlebnisse haben mich zu der Person gemacht, die ich heute bin.»

Genauso entscheidend sei das Jahr 2007 gewesen, angefangen mit der längst überfälligen Scheidung von Mounir. «Diesen Schritt wollte ich feiern. So haben die Partys mit Didi angefangen.» Didi ist der dritte und letzte in diesem Text wichtige Freund Paolas. Und Party machen, das bedeutet für Paola nicht, in einen Club gehen, sondern zu zweit oder zu dritt («nicht mehr, sonst wird es knapp mit dem Stoff») in einer Wohnung zu sitzen und zu konsumieren. Anfangs – zum ersten Mal am 14. März 2007, weiss Paola – rauchen sie Koka- und Sugaretten, später Base und Heroin von der Alufolie, weil man da weniger Stoff verliere. Und wohl auch, weil das Folienrauchen stärker wirkt. Geschnupft habe sie «das Zeug» nie. «Ich wollte mir schliesslich nicht die Nasenschleimhäute kaputtmachen.»

Im Verlauf des nächsten halben Jahres finden die «Partys» immer häufiger statt: Einmal im Monat, dann einmal alle zwei Wochen, dann fast täglich. Im August 2007 kündigt Paola deswegen ihre Stelle. Es geht ihr längst nicht mehr darum, mit den Drogen ihre Scheidung zu feiern, sondern darum, die traumatischen Erlebnisse der letzten sieben Jahre vorübergehend beiseitezuschieben und die damit verbundenen Schmerzen zu betäuben. «Wenn ich Base rauche, fühle ich mich frei, stark», sagt sie. «Ich könnte dann die ganze Welt umarmen.» 

Am liebsten umarmt sie damals aber Didi, und so kommt es, dass Paola ein zweites Mal schwanger wird. So ganz mit dem Konsum aufhören kann oder will sie in dieser Zeit nicht, zumindest nicht am Anfang der Schwangerschaft. Aus diesem Grund wird Paolas Tochter quasi direkt nach der Geburt in einer SOS-Familie untergebracht, und sie erneut in der fürsorglichen Unterbringung. Und als Didi 2011 ausgeschafft wird – wegen fehlender Alimentzahlungen und weil er im Suchtdruck «zu viel Scheiss an der Langstrasse» gemacht hat –, bricht die eh schon auf wackeligen Beinen stehende Welt Paolas endgültig in sich zusammen. Nach und nach rückt sie näher an die Mittel- und Obdachlosigkeit, sieht ihre Kinder immer weniger, und als sie mit einem Auto, das ein flüchtiger Bekannter gestohlen und ihr «geschenkt» hatte, ohne Führerschein am Steuer erwischt wird, muss sie ein halbes Jahr ins Gefängnis. Danach startet sie mehrere psychiatrische Behandlungsversuche, um von den «Scheissdrogen» wegzukommen. Nur: «Jedes Mal nach der Therapie haben sie mich wieder auf die Strasse gestellt.» Und zwar auf die Langstrasse.

Der Teufelskreis an der Neufrankengasse

Auf dem Weg zu Paolas Wohnung kommen wir an der Ecke Langstrasse-Lagerstrasse vorbei. Hier, zwischen Olé-Olé-Bar und Rothaus ist sie heute jeden Abend auf dem Trottinett unterwegs und fragt Partytouristen und Passantinnen nach Münz. «An einem guten Abend bekomme ich 40 Franken pro Stunde, an einem schlechten sind es nach drei Stunden vielleicht 10», erzählt sie mir, als wir durch den Regen die Neufrankengasse herunterlaufen. Den grössten Teil des Geldes verwendet sie für Kokain. Oder sie braucht es, um Diaphin für die Nacht zu kaufen. Ohne kann sie nicht schlafen. Zwar bekomme sie in der beaufsichtigten Wohnintegration zwei Tabletten pro Tag, aber das reiche oft nicht –  vor allem, wenn sie eine der beiden Tabletten schon am Mittag wieder auf der Strasse zu Geld mache. Neben dem Diaphin erhält Paola im «BeWo» 120 Franken pro Woche für Essen, Kleidung, Hygieneprodukte. Um ihre offenen Rechnungen zu begleichen und ihre Sucht zu finanzieren, reicht das bei Weitem nicht. 

Solange sie in diesem Haus sei, komme sie nie aus dem Teufelskreis heraus, weiss Paola. Was sie damit meint, sehe ich, als sie mich am Empfang vorbei durch die kameraüberwachten Gänge in ihre Wohnung im siebten Stock mitnimmt. Auf dem kleinen Stubentisch türmen sich leere Zigarettenschachteln, Pfeifen, Salmiak für die Base. Rauch hängt in der Luft und in den Wänden, die Fenster sind mit Stofftüchern verdunkelt. Alle paar Minuten klopft es an der Tür, andere Bewohner:innen gehen ein und aus. Meist wollen sie etwas kaufen oder eine Folie mitrauchen, während im Hintergrund Umberto Tozzi aus den kleinen Boxen tönt. 

Doch damit soll jetzt endgültig Schluss sein. Ab nächster Woche kann Paola wieder in einem städtischen Arbeitsintegrationsbetrieb an der Kanonengasse anpacken, um ihre Bussen und Betreibungen abzubezahlen. Ab dann will sie nichts mehr konsumieren und zum ersten Mal seit 2007 wieder eine Festanstellung finden. Für die ersten Wochenenden – unter der Woche ist sie in der Klinik –  hat sich Paola einen Platz in der Wohnung ihres Bruders Pepe gesichert. «Vielleicht gehen wir auch mal ein paar Tage zusammen ins Wallis», sagt sie, und man hört ihrer Stimme den Optimismus an. Und für später habe sie sogar eine eigene Wohnung in Aussicht, mit fünf Zimmern und Balkon, gleich am See in Wädenswil. Genug Platz, dass ihre beiden Kinder sie regelmässig besuchen können. Ein kleines Stück Paradies.

Im 2017 geräumten «Gammelhaus» an der Neufrankengasse 6 befindet sich ein städtisches beaufsichtigtes Wohnangebot mit 44 Wohnungen für randständige Personen, die keine Krankheitseinsicht haben und sich der sozialarbeiterischen Betreuung verweigern. Ziel des Projekts ist einerseits die Unterbringung und andererseits die Unterstützung der Bewohner:innen auf dem Weg zu einem selbstständigen Leben.

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