Overkill

Tabita Johannes rechnet in ihrem Parforceritt «Kaltschweiss» mit der Überforderung des modernen Lebens ab.

Noch im Dunkeln, der Soundteppich von Massimiliano Napoli wummert bereits und das Blaulicht suggeriert eine Abschreckung von Randständigen von einem witterungsgeschützten Unort, regt sich beinahe unmerklich etwas in der Ecke. Ein scheues Reh, eine verletzte Seele, ein von allen Anforderungen überfordertes und zermürbtes menschliches Wrack, so scheints. Doch ihre Worte haben Kraft, sind die geballte Wut. Gegen die Vorliebe der Hinwendung zur Unterhaltung, weil das Elend anzuschauen doch so unerträglich wäre. Gegen jede geheuchelte Beschwichtigung, die überfordernde Disparität sämtlicher zeitgleich an jemandem zerrender Anforderungen schadlos und mit einem souveränen Lächeln bewältigen zu vermögen. Die trotzig-zackige Beweisführung, sich wissentlich und willentlich der unterwürfigen Überanpassung zu verweigern, wirkt in der stilisierten Pose der erotischen Projektionsfläche einer Poletänzerin an der Stange in grellem Gelblicht wie eine darstellerische Überführung des Kratzgeräusches von Fingernägeln auf einer Schiefertafel. Das Solo von Tabita Johannes erscheint als letztes Aufbäumen sämtlicher mobilisierbarer Kräfte und intellektueller Analysefähigkeit, die sich in einer ungeheuerlich zynischen Mélange zu einer Brandrede der Lebensmüdigkeit vermengen. Barfuss, mit übergrossen Secondhandkleidern behangen und konstant hastig und heftig am eigenen Haupthaar zupfend und wuselnd, wirkt ihre Figur auf den ersten Blick wie jemand aus der Geschlossenen Entflohenes oder dann jemand von einer Erlösungssehnsucht getriebenen auf Turkey. Aber das ist alles blosse Form und grandioses Schauspiel. Denn insgeheim meint dieses wild um sich schlagende menschliche Wrack mitsamt dessen intellektueller Fähigkeit zur Abstraktion mitsamt empathischem Abstraktionsvermögen uns alle. Zugegeben, in einer Ausnahmesituation. Die Contenance hat sich kurzerhand verabschiedet, die wild mäandernden Gedankensprünge wirken teils, als sei die Rednerin ziemlich von der Rolle. Die Heftigkeit ihres Austeilens macht augenscheinlich noch nicht mal Halt vor einer drohenden Selbstverletzung. Hier steht jemand in jeder erdenklichen Hinsicht, die konkrete Zuschreibung wird mehr und mehr nebensächlich, am Abgrund und zieht aus dieser finalen Performance einen abschliessenden Energieschub, währenddem sämtliches Ungemach, sämtliche Last, sämtliche Verlogenheit und Heuchelei, sämtliches sogenanntes Zusammenreissen als das eigentlich Kranke in unserem Dasein blossgestellt und angeklagt wird. Das gemeine Einvernehmen über unsere Lebensweise auf dem Weg zum Schafott.

«Kaltschweiss», bis 23.2., Schauspielhaus, Zürich.

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