Multidimensional

In sechs Kapiteln zerstört die hier federführende Kunsthauskuratorin Cathérine Hug die individuelle Illusion, schon eine ungefähre Ahnung davon zu haben, was denn Zeit wäre. Zum Glück schickt sie die Erklärung voraus, dass es selbst den Wissenschaften bis dato nicht geglückt ist, das Phänomen Zeit zu ergründen. Der einfacheren Zugänglichkeit halber ist es ratsam, beim Besuch die vermeintlich verkehrte Richtung einzuschlagen.

Das letzte Kapitel «Eigenzeit» ist das am stärksten intuitiv erfassbare, weil die dort versammelte zeitgenössische Kunst am nächsten zur realen Lebenserfahrung steht. Der Hintersinn von San Kellers Einladung etwa, sich zu ihm auf eine Pritsche zu legen, während er einen auf Kopfhöhe aus einem Fernseher ebenfalls liegend in die Augen schaut und zum Wettstreit einlädt «wer schläft zuerst», lässt sich sogar auch ohne aktive Teilhabe ergründen. Alle kennen das Gefühl   einer überbordenden Aufregung am Vorabend einer Prüfung, einer grossen Reise oder in Kinderjahren vor der Bescherung, die einem den Schlaf raubt. Der Verstand und die Vernunft verlangen nach einer Ausgeruhtheit, also das unmittelbare Einschlafen per Knopfdruck, derweil das Gedankenkarussell zielstrebig exakt dagegen anläuft. Patt. Auf einer ergänzenden Ebene kommt der ganze Nonsens der Fragestellung hinzu, der einem herkömmlich für natürlich gehaltenen Empfinden zuwiderläuft. Denn, wenn schon Wettstreit, dann doch eher, wer bleibt länger wach. Und schon ist die beabsichtigte Verunsicherung komplett.

Noch schneller landet dort nur, allerdings dort auch härter aufschlagend, weil die Charmeabfederung entfällt, wer sich an den Wegweiser hält und mit dem Kapitel «Deep Time» den Ausstellungsrundgang beginnt. Hier gehts um Astrophysik, Relativitätstheorie und Weltraumteleskope, die Jahrmillionen in die Vergangenheit blicken, also letztlich um uns nur sehr schwer vorstellbare Dimensionen. Alles Dinge, die ein Durchschnittswissen als existierend anerkennen und sich streckenweise sogar darum bemühen kann, im Ansatz irgendetwas davon begreifen zu wollen, aber zum Wohl der eigenen Frustrationsschwelle sollte der davon durchaus angespornte Forschungsdrang aktiv im Zaum behalten werden. Denn begreifen lässt sich vieles davon kaum. Es geht in diesem Kapitel gemäss der am Cern (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) für das Kunstprogramm verantwortlichen Kunsthistorikerin Mónica Bello um die Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft. Wenn in der Grundlagenforschung die Frage etwa lautet, wie überhaupt eine Idee entsteht, ergeben ihre Ausführungen im Katalog sehr wohl Wort für Wort eine Art von Sinn, die Bedeutung davon, insbesondere die daraus folgende Konsequenz indes sprengt letztlich die eigene Vorstellungskraft. Katie Paterson stellt mit «Time Pieces (Solar System)» neun Uhren auf, deren Sekundenzeiger kaum voneinander unterscheidbar verschieden schnell laufen. Sie stehen für die acht Planeten und den Erdenmond und thematisieren «das Wechselverhältnis zwischen Anziehungskraft und Sonnenumlaufdauer, wobei die unterschiedlichen Ganggeschwindigkeiten die jeweiligen Längen eines Tag-Nacht-Zyklus anzeigen», wie in der Erläuterung nachzulesen ist. Der Versuch einer Überprüfung mit Blick auf die eigene Uhr führt höchstens in die Verzweiflung. 

Spekulativ, manipulativ

Sehr viel eingängiger fassbar ist wiederum das Kapitel «Messbare ökonomische Perspektive». Andreas Gurskys Fotografie «Chicago Board of Trade III» etwa zeigt der Ring der weltältesten Börse, die ihren Ursprung im Getreidehandel hat und wo noch heute rund 80 Prozent des Termin- und Optionshandels von Grundnahrungsmitteln abgewickelt werden. Hier entscheiden Sekundenbruchteile über Megagewinne oder -verluste, während der Faktor Zeit bei den Hersteller:innen, vor allem aber auch bei den Endverbraucher:innen weltweit eine gänzlich andere Komponente darstellt. Bei einem US-Dollar pro Tag Nahrungsmittel für eine Familie beschaffen müssend, entscheidet diese in mehrerlei Hinsicht ferne Spekulation darüber, wie viele Münder damit heute für wie viele Stunden satt gemacht werden können. Eine Ecke verweist auf Tim Zulaufs Theaterprojekt «Börsen handeln» (P.S. vom 14.1.22), worin er eine Annäherung an die Rocket-Science des Hochfrequenzhandels zu ermöglichen suchte. Der Sprung in die «Politische Dimension» von Zeit liegt auf der Hand und ist auch kurz. Hier sticht etwa die französische «Taschenuhr mit Revolutions-Zifferblatt» um 1793/95 in einer Vitrine ins Auge. Die damalige Bestrebung, auch die Zeiterfassung zu revolutionieren und in ein Dezimalsystem zu überführen, vergegenwärtigt das im Katalog von der Uhrenhistorikerin Monika Leonhardt ausgeführte ewige Ringen um die Hoheit der Zeitbestimmung. Einerseits im Duell zwischen Julianischem und Gregorianischem Kalender um 1800, zuvor aber noch allein durch technisch bedingte Unmöglichkeit, die Unregelmässigkeit des Sonnentages aufgrund der elliptischen Umlaufbahn und der Neigung der Erdachse in eine präzise Allgemeingültigkeit zu überführen. Zuletzt ist die von Grossbritannien ausgehende Unterteilung der Welt in Zeitzonen mit dem Nullpunkt in Greenwich bei London auch eine weltumspannende Machtdemonstration, was gerade heute in der kolonialismuskritischen Neubewertung der Geschichte Fragen von grundlegender Natur aufwirft. Als gewichtiges, wenn nicht beinahe gedankenleitendes Werk für die Vorbereitung der Ausstellung benennt Cathé­rine Hug die Dissertation von Florian Eitel «Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz», wovon sich auch Cyril Schäublin vier Jahre später für den Film «Unrueh» (P.S. vom 18.11.22) inspirieren liess. Die beiden weiteren Kapitel «The Information Superhighway» und «Biologische Perspektive» pendeln jeweils zwischen kryptisch und zugänglich. Das rührt vor allem daher, dass auch hier Werke präsentiert werden, die sich im Grenzbereich des Fassbaren bewegen, ja beinahe schon auf der Ebene des Orakelns in eine Zukunft zielen, von der sich noch gar nicht sagen lässt, ob sich diese Vorhersage tatsächlich dergestalt auch entwickeln werde . Aktuell stützen sich die Entwicklungsthesen auf zahllose Anzeichen, die per Ausschlussverfahren und Wahrscheinlichkeitsrechnungen, ausgehend vom aktuellen Stand des Irrtums, also auch exakt dadurch letztlich beschränkt, eine Fragestellung entwickeln, deren Beantwortung wiederum spekulativ ist. Zwei darin ausgestellte organische Zeitstrahlen – Sinzo Aanzas «La carte des choses possibles» und Daphné Le Sergents «Codex de 2031» – weisen, eine historische Unterdrückung und Ausbeutung kennend, recht direkt eine Veränderung einfordernd, in eine potenziell hoffungsfrohe Zukunft.

Physisches Erleben

Was diese museenüberspannende Zusammenarbeit, u.a. mit dem Musée international d’horlogerie in La Chaux-de-Fonds und mehreren Fachpersonen für Technikhistorie, Physik, Biologie u.v.m. prima herausarbeitet und sowohl erfreulich wie auch latent unangenehm in eine regelrecht physische Erfahrbarkeit zu überführen versteht, ist, die Multidimensionalität dessen, was wir gemeinhin unter dem Begriff Zeit versammeln: Der potenziell unaufhaltsame Zerfall eines Kunstwerks, das interessierte Vertrödeln während des Prozesses des Verstehensuchens, die historische Bemühung um mechanisches Erlangen grösstmöglicher Genauigkeit in der Messung und die daraus erwachsenden Gerätschaften, der ironische Bruch mit der Konvention einer möglicherweise viel zu eindimensionalen Vorstellung dessen, was ein sogenannt rechtschaffenes Leben denn ausmache. Die Einladung zur aktiven Teilhabe, etwa auf einem Podest mit zwei Zubern eine «One Minute Sculpture» nach Erwin Wurm darzustellen oder sich gar in Relation zu Ai Weiweis Paar Handschellen aus Jade von der Mehrfachinstallation der an schweren Ketten von der Decke hängenden Handschellen «für die Dauer von mindestens 30 Minuten» durch das Kunsthauspersonal anketten zu lassen und derweil selbst Teil der Ausstellung zu werden, ist bislang gemäss einer nicht repräsentativen Umfrage bei der Saalaufsicht (noch) nicht auf überbordendes Interesse gestossen. Die Einladung von Monica Bonvicini indes steht.

«Zeit. Von Dürer bis Bonvicini», bis 14.1.23, Kunsthaus, Zürich. Katalog bei Snoeck.

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