Mit Tempo in die Krise?

Ich kam im Frühling 1980 in die Kanti. Einer unserer Lehrer, Herr Leuzinger, war Naturwissenschaftler und ein gmögiger Glarner, aber sicher kein Linker. Ein Spruch von ihm ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: «Eine Tonne Blech in Bewegung zu setzen, um 70 Kilo Leuzinger von A nach B zu transportieren, ist Verhältnisblödsinn.»

Anno 2021 lese ich in der NZZ regelmässig Artikel zum Autofahren, genauer zum Thema Tempo 30, und dort scheint der Fall klar: Die Roten und die Grünen spinnen offensichtlich. Es geht ihnen gar nicht um weniger Lärm, um zu hohen Schadstoffausstoss, um Kosten fürs Reinigen von Sandsteinfassaden historischer Gebäude, um Gesundheitskosten und um die Menschen, die wegen der Luftverschmutzung zu früh sterben, kurz, um weniger Verhältnisblödsinn. Nein, sie wollen den Leuten bloss den Spass am Autofahren verderben und gefährden dabei unser aller Sicherheit sowie die Pünktlichkeit der VBZ.

«Sogar mit Blaulicht verlängert sich die Fahrzeit: Tempo 30 flächendeckend in Zürich bremst Sanität, Feuerwehr und Polizei», titelte die ‹alte Tante› kürzlich. Hintergrund für die Berichterstattung war die Antwort des Regierungsrats auf eine Anfrage dreier Kantonsrät­Innen von FDP und SVP. Der Regierungsrat schreibt unter anderem: «Gemäss Art. 90 Abs. 4 Bst. a SVG liegt in Tempo-30-Zonen unabhängig von den konkreten Umständen stets ein Raserdelikt vor, wenn die erlaubte Geschwindigkeit um 40 km/h oder mehr überschritten wird. (…) Vor diesem Hintergrund ist wohl vermehrt mit Straf- und Administrativverfahren zu rechnen.»

Bös übersetzt heisst das wohl, dass wir Tempo 30 nicht einführen dürfen, weil wir sonst die Krankenauto-FahrerInnen büssen müssen, wenn sie mit 70 km/h oder schneller unterwegs sind. Und ich Naivling hatte doch tatsächlich gedacht, unseren PolitikerInnen sei es gestattet, bestehende Gesetze bei Bedarf anzupassen!

Im selben Artikel ist zu lesen, dass die Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich davon ausgehen, dass sie wegen Tempo 30 mehr Fahrzeuge beschaffen müssen und zusätzliches Personal brauchen. «Das kostet etwa 20 Millionen Franken im Jahr (…)», schreibt die NZZ. Schön, hier gibt es immerhin bereits Untersuchungen und Zahlen, könnte man meinen. Doch woher stammt die Angabe «20 Millionen Franken im Jahr»?

Der Zürcher Gemeinderat debattierte jüngst mehrmals über Tempo 30 (P.S. berichtete). In seiner Antwort vom 14. Januar auf eine Interpellation von Andreas Egli und Martina Zürcher (beide FDP) hält der Stadtrat fest, «die zu erwartenden Zusatzkosten der VBZ können (…) nur überschlagsmässig und bezogen auf das heutige Netz und Angebot abgeschätzt werden. (…) Bei gleichbleibendem Linien- und Fahrplanangebot müsste bei den VBZ mit zusätzlichen Betriebskosten von rund 20 Millionen Franken pro Jahr gerechnet werden». Zu Deutsch: Die genauen Kosten sind unbekannt (aber der ZVV hat bereits klar gemacht, dass er sie nicht übernimmt). Der Stadtrat schreibt weiter: «Diese Zusatzkosten (…) entsprechen in etwa denjenigen, die aktuell infolge Behinderungen durch den motorisierten Individualverkehr und Eigenbehinderungen des öffentlichen Verkehrs verursacht werden.» Sehr schön: Man nehme die Kosten, die entstehen, weil sich die Autos, bildlich gesprochen, gegenseitig auf den Pneus herum und dem Tram im Weg stehen, und folgere daraus, dass wegen Tempo 30 gleich hohe Kosten entstehen. Nebenbei bemerkt: Für die Kosten «infolge Behinderungen durch den motorisierten Individualverkehr» etc. kommt selbstverständlich der ZVV auf.

Da heute Autos eher zwei Tonnen wiegen als eine, ist der Spruch von Herrn Leuzinger noch mindestens genauso wahr wie vor rund 40 Jahren. Das Thema «Verhältnisblödsinn» jedoch greift interessanterweise niemand auf, auch nicht jene Bürgerlichen, die sonst stehts von «Effizienz» und «Kostenwahrheit» schwärmen. Hier geht es halt um etwas anderes: Es lebe die Freiheit, ein beliebig grosses und schweres Auto zu fahren und damit im Stau zu stehen! Dass Autos hinten Dreck rauslassen und viel, viel Platz brauchen, nimmt man auch im 21. Jahrhundert einfach in Kauf, die Umweltschäden ebenso. Ob Rote, Grüne, FDP und SVP einander gegenseitig die Schuld dafür in die Schuhe schieben, anstatt endlich zu handeln, ist der Erde übrigens egal: Sie wird es eher überleben als wir Menschen.

Ein anderer meiner Lehrer an der Kanti, Herr Straumann, unterrichtete Englisch, kam mit dem Velo zur Schule, trug Ledersandalen und handgestrickte Wollpullis und war höchst wahrscheinlich ein Linker. Er rechnete uns vor, dass unsere Klasse das Schulzimmer nur via Körperwärme innert einer Lektion um zwei Grad erwärme. Also setzte er den Thermostat auf 18 Grad und verkündete stolz, wieviel Heizöl wir dadurch einsparten.

Rund 40 Jahre später soll das geänderte Energiegesetz, über das wir am 28. November abstimmen, dafür sorgen, dass nicht nur Heizöl gespart wird, sondern dass wir es künftig ganz weglassen können und trotzdem ohne zusätzlichen dicken Wollpulli durch den Tag kommen. Der ‹Tages-Anzeiger› hat auf der Front seiner Ausgabe vom 28. September gleich mal die fette Schlagzeile hervorgekramt: «Mietern droht wegen Klimaschutz der Rauswurf.» Moment: Geht es jetzt ums Energiegesetz oder um MieterInnenschutz?

Natürlich um Ersteres. Aber der Grund, weshalb wir über dieses Gesetz abstimmen, ist das Referendum, das Hauseigentümerverband und SVP ergriffen haben. Und wenn sich diese beiden plötzlich Sorgen machen um das Wohl der MieterInnen, ist meistens etwas faul. So auch hier: Leerkündigungen nehmen in der Stadt Zürich bereits seit Jahren zu, wie auch einer Tabelle in besagtem ‹Tagi›-Artikel zu entnehmen ist. Bei 26,2 Prozent der Umbauten erfolgte in den Jahren 2011–12 eine Leerkündigung, in den Jahren 2017–19 lag der Anteil bereits bei 37,9 Prozent. Und: Um lediglich die Heizung zu ersetzen, braucht es sicher keine Leerkündigung, daran ändert auch das neue Energiegesetz nichts.

Das Muster aber ist altbekannt: Wer hat, dem wird gegeben und der kann machen, was er will. Doch die Opfer seines Handelns sollen bitteschön nicht sein reines Gewissen belasten, sondern selber daran schuld sein, dass sie leergekündigt werden. Wer Ja stimmt, kennt also wenigstens den Grund für die eh unausweichliche Leerkündigung innerhalb der nächsten zehn Jahre … Ernsthaft: Wollten wir wirklich etwas unternehmen gegen Leerkündigungen aus Renditegründen, dann herrschte breiter Konsens darüber, dass das Energiegesetz der falsche Ansatzpunkt ist. Natürlich können wir, rein theoretisch, das Gesetz trotzdem ablehnen und nochmals 40 Jahre weitermachen wie bisher. Wir söhnen uns dann aber besser vor dem 28. November mit der Tatsache aus, dass die Erde es eher überlebt als wir Menschen.

 

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