«Mindestens ansatzweise gibt es die Zweiklassenmedizin bereits»

Letzte Woche hat die SP Schweiz ihre Prämienentlastungs-Initiative eingereicht. Warum sie verlangt, dass die Haushalte künftig nur noch maximal zehn Prozent des verfügbaren Einkommens für die Krankenkassenprämien ausgeben sollen, erklärt der Hausarzt und SP-Nationalrat Angelo Barrile im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Sie sind Mitglied des Initiativkomitees der Prämienentlastungs-Initiative der SP Schweiz und Hausarzt: Weshalb engagieren Sie sich für diese Initiative?

Angelo Barrile: Als erstes möchte ich festhalten, dass ich einerseits als Arzt in einer Gruppenpraxis mit Fixlohn und ohne Umsatzbeteiligung angestellt und andererseits Vizepräsident des Verbandes Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen- und ärzte VSAO bin. Bei der Arbeit im Verband, vor allem aber in meiner Sprechstunde höre ich immer wieder Klagen über die Prämienlast, und zwar nicht nur von Menschen aus der Stadt, wo die Prämien am höchsten sind. Bereits als ich noch im Kantonsrat war, hat das Thema die Politik beschäftigt, und die Belastung durch hohe Prämien nimmt immer noch zu.

 

Einzelpersonen und Familien, die über ein geringes Einkommen verfügen, erhalten doch Prämienverbilligungen.

Stimmt, doch die Kosten steigen stärker als die Verbilligungen, und zudem wird ein immer grösserer Teil der Gesamtkosten in jenen Bereich verlagert, den wir selber bezahlen müssen, sei es via Krankenkassenprämien, Franchise oder Selbstbehalt. Heute machen die Prämienkosten durchschnittlich 14 Prozent des Haushaltseinkommens aus. Die effektiven Gesundheitskosten kommen dann noch dazu. Einige Familien geben gar 20 Prozent für die Prämien aus, und zwar trotz Verbilligung. So kann es nicht weitergehen.

 

Dann müsste man doch den Kreis der Bezugsberechtigten ausweiten und die Verbilligungen erhöhen.

Für die Prämienverbilligungen sind primär die Kantone zuständig. Der Bund kann ihnen zurzeit nicht befehlen, mehr Geld für die Verbilligungen zur Verfügung zu stellen. Vorstösse in den Kantonsparlamenten sind natürlich möglich, doch in bürgerlich dominierten Parlamenten haben es solche Ansinnen erfahrungsgemäss schwer. In der Vergangenheit haben die Kantone oft gerade das Gegenteil gemacht, sprich bei den Verbilligungen angesetzt, wenn sie sparen mussten. Heute haben wir die Situation, dass erstens nicht mehr alle Haushalte, die darauf angewiesen sind, Verbilligungen bekommen – und dass zweitens jene, die noch bezugsberechtigt sind, weniger erhalten, als sie tatsächlich bräuchten.

 

Wie wirkt sich das aus?

Immer mehr Menschen, die in meine Sprechstunde kommen, haben eine hohe Franchise gewählt, und zwar nicht, weil sie finanziell so gut gestellt sind – im Gegenteil: Mit tieferer Franchise wären die Prämien so hoch, dass sie sie nicht bezahlen könnten. Hohe Franchisen können jedoch dazu führen, dass jemand entweder gar nicht oder viel zu spät zum Arzt geht, und das wiederum kann hohe Folgekosten und bleibende Gesundheitsschäden verursachen.

 

«Die Schweiz ist in Europa fast das einzige Land, das die Grundversicherung primär über ungerechte Kopfprämien finanziert», heisst es im Mediencommuniqué, das die SP Schweiz anlässlich der Einreichung der Initiative verschickt hat. Das ist erstens nichts Neues, und zweitens wurde die Einheitskrankenkasse vor nicht allzu langer Zeit an der Urne abgelehnt…

Von allen OECD-Ländern steht die Schweiz tatsächlich an der Spitze, was den Anteil der Gesundheitskosten betrifft, den die Menschen aus der eigenen Tasche bezahlen müssen. Aber das System zu ändern, zum Beispiel in Richtung einer Einheitskrankenkasse oder auch nur von einkommensabhängigen Prämien, ist ein langwieriges und schwieriges Unterfangen. Darum geht es uns mit dieser Initiative nicht: In einer Zeit, in der Menschen in der Schweiz betrieben werden, weil sie die Krankenkassenprämien nicht bezahlen können, sind schnellere Lösungen gefragt.

 

Was bringt die Initiative konkret?

Kommt unsere Initiative durch, kann der Bund die Kantone stärker in die Pflicht nehmen: Kantone dürfen nicht mehr einfach bei den Prämienverbilligungen sparen. Um diesen Eingriff in die Hoheit der Kantone abzufedern, schlägt unsere Initiative vor, dass der Bund schweizweit künftig zwei Drittel der Prämienverbilligung übernimmt. Das hat den Vorteil, dass dadurch der Druck auf den Bund zunimmt, über sozialverträgliche Lösungen nachzudenken. Denn hier geht es bei der Prämienfrage in erster Linie um Sozialpolitik, nicht um Gesundheitspolitik.

 

Um viel Geld aber auch…

… ja, und darum, wie wir die Prioritäten setzen: Wenn für die Armee viele Milliarden Franken zur Verfügung stehen, warum heisst es dann bei Gesundheit, Bildung und Sozialem stets, dafür fehle halt das Geld? Grundsätzlich wäre ein einheitliches System zu begrüssen, eines, das für alle Kantone dieselben Prämien und gleich viel Prämienverbilligung vorsähe. Doch die Frage der Verbilligung war bisher stets ein Parlamentsentscheid, dem die bürgerliche Mehrheit ihren Stempel aufgedrückt hat. Dank unserer Initiative können die Schweizer Stimmberechtigten erstmals überhaupt über Prämienverbilligungen abstimmen. Nachdem die Gesundheitskosten in den Sorgenbarometern der letzten Jahre stets auf den Rängen 1 bis 3 aufgetaucht sind, erhöht unsere Initiative nun den Druck, eine mehrheitsfähige Lösung zu finden.

 

Wegen der Unternehmenssteuerreform sinken die Einnahmen des Bundes, und gleichzeitig soll er gemäss Initiative mehr an die Gesundheitskosten zahlen: Wie realistisch ist das?

Erstens hat uns der Bundesrat vor der Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform vorgerechnet, dass sich dank tieferer Steuersätze unter dem Strich indirekt mehr Einnahmen generieren lassen. Zweitens, beziehungsweise falls die Einnahmen tatsächlich sinken: Wie zynisch wäre es, angesichts geringerer Einnahmen ausgerechnet bei jenen zu sparen, die das Geld am nötigsten haben?

 

Zur Ermittlung des massgeblichen Einkommens rechnet die SP so: Steuerbares Einkommen minus Sozialabzüge für Kinder und Alleinstehende plus ein Fünftel des Reinvermögens gleich 100 Prozent, und 10 Prozent davon dürfen die Prämien maximal kosten. Das steuerbare Einkommen ist aber eine relative Grösse – Freiberufler und Hausbesitzerinnen sowie jene, die sich eine Steuerberatung leisten können, fahren normalerweise besser als gewöhnliche Angestellte mit Lohnausweis. Wie gerecht ist ein solches System?

Volksinitiativen sollten möglichst schlank formuliert sein. Zum Einkommen und zu weiteren konkreten Fragen hat die SP Schweiz ein Zusatzpapier erarbeitet, und dort findet sich auch ein Vorschlag für die Ermittlung des massgeblichen Einkommens sowie die Berücksichtigung des Vermögens. Wir möchten ein möglichst gerechtes Verfahren für jene finden, die heute mehr zahlen als zehn Prozent. Die InitiantInnen sind jedoch, wie bei Volksinitiativen üblich, gar nicht für die Umsetzung zuständig; sie ist Aufgabe des Parlaments. Es ist auch unbestritten, dass es nebst unserer Entlastung für die tiefen Einkommen nach wie vor Massnahmen zur Kostendämpfung braucht. Aber wirksame Massnahmen bedingen einen Systemwechsel und Zeit, während man unsere Initiative rasch umsetzen kann.

 

Von GegnerInnen der Initiative ist zu hören, man sollte vor allem den Grundsatz «ambulant vor stationär» endlich durchsetzen, damit liesse sich viel Geld sparen.

Diese ‹Baustelle› bearbeiten wir zurzeit im Parlament. Das Problem dabei: Von den Kosten, die beispielsweise für eine kleine Operation im Spital anfallen, übernimmt der Kanton 55 Prozent. Lässt man sich jedoch ambulant operieren, gehen die ganzen Kosten zulasten der Krankenkasse, sprich der Patientin und der Prämienzahler. Oder anders gesagt: Der Kanton spart Geld – nicht zuletzt auf dem Buckel der Armen.

 

Die Initiative stemmt sich auch gegen die Entwicklung «hin zu einer Zweiklassenmedizin». Gleichzeitig heisst es im Argumentarium, bereits heute gingen jedes Jahr zehn bis zwanzig Prozent der Menschen deshalb nicht zum Arzt, weil sie Angst hätten, dass der Arztbesuch sie Geld kosten könnte, das sie nicht haben. Das kann doch nur heissen, dass die Zweiklassenmedizin bereits Tatsache ist?

Grundsätzlich haben wir ein gutes, aber auch ein teures System. Und wir sind verwöhnt: In etlichen europäischen Ländern wartet man mehrere Wochen, wenn man einen Laboruntersuch oder ein Röntgenbild, geschweige denn eine Computertomographie (CT) braucht. In der Gemeinschaftspraxis, in der ich arbeite, stehen Labor und Röntgen sofort zur Verfügung, und wer dringend eine CT braucht, erhält sie innert zweier Tage. Das kostet Geld, aber es erhöht auch die Qualität der medizinischen Versorgung. Dennoch gibt es die Zweiklassenmedizin mindestens ansatzweise bereits – und zwar in beide Richtungen.

 

Wie meinen Sie das?

Wer besser versichert ist, wird eher operiert, sprich, für ihn oder sie ist die Gefahr der Überversorgung grösser. Bei zusatzversicherten Frauen ist beispielsweise die Kaiserschnittrate höher, bei AkademikerInnen generell die Anzahl chirurgischer Eingriffe. Auf der anderen Seite haben wir wie erwähnt Menschen, die aus Geldmangel gar nicht oder viel zu spät zum Arzt gehen.

 

Die Bürgerlichen beklagen in regelmässigen Abständen, dass viele Menschen zu fleissig zum Arzt gingen, frei nach dem Motto, «das habe ich zugut, schliesslich habe ich meine Prämien immer brav bezahlt». Wie oft erleben Sie das in Ihrer Praxis?

Gemäss meiner Erfahrung kann es mal vorkommen, dass jemand, der seine Franchise bereits bezahlt hat, findet, «jetzt lasse ich diese Untersuchung auch gleich noch machen».  Aber eine Mehrheit, wie die Bürgerlichen bisweilen behaupten, ist es sicher nicht. Die meisten Menschen wissen sehr genau, dass es sich bei der Krankenkasse um eine Versicherung handelt und bei den Prämien folglich um Beiträge, die man in der Hoffnung zahlt, sie möglichst nie ausschöpfen zu müssen.

 

Die Mehrheit des Zürcher Kantonsrats möchte eine Gebühr von 50 Franken erheben, die alle zahlen müssten, die auf die Notfallstation eines Spitals gehen, obwohl sie «kein Notfall» sind. Eine solche Regelung müsste laut der Zürcher Regierung allerdings erst auf Bundesebene beschlossen werden: Was halten Sie davon?

Ich finde es unglaublich frech, eine solche Gebühr zu verlangen. Es gibt Menschen, die ohne gross zu überlegen gleich zur Notfallstation fahren, das stimmt. Aber ob sie tatsächlich ein Not- oder ein Bagatellfall waren, das kann auch ich als Arzt erst hinterher einschätzen! Angenommen, jemand klagt am Telefon über plötzlich aufgetretene starke Kopfschmerzen: Ich kann nicht wissen, ob ihm oder ihr eine Kopfschmerztablette genügt, oder ob sie eine Hirnblutung oder einen Hirntumor haben. Natürlich sind Hirnblutungen selten, aber woher weiss ich, dass es keine ist, wenn ich die Patientin nicht erst untersuchen kann? Und wenn es tatsächlich keine war, dann hat der Patient «nur wegen ein bisschen Kopfweh» die Notfallstation aufgesucht – und soll die 50 Franken bezahlen? Das geht überhaupt nicht. Diese Massnahme trifft definitiv die Falschen am stärksten, jene, die mit den kleinsten Budgets haushalten müssen.

 

Die Forderung wurde als Massnahme für «mehr Selbstverantwortung» verkauft: Finden Sie das prinzipiell verkehrt?

Natürlich nicht, aber es ärgert mich trotzdem. Denn die Realität ist die, dass heute jede und jeder erst «Dr. Google» fragt, wenn ihr oder ihm etwas fehlt. Und gibt man bei Dr. Google Symptome ein, landet man nun mal innert kurzer Zeit bei schweren Krankheiten wie beispielsweise Krebs. Das macht den Menschen Angst. Wer nicht selber Arzt oder Ärztin ist, kann zudem nur schwer einschätzen, ob die Symptome wirklich der schlimmstmöglichen Variante entsprechen, die sich im Internet findet. Deshalb gehört es zu meinen Aufgaben als Hausarzt, meinen PatientInnen erst mal die Angst zu nehmen. «Selbstverantwortung» heisst für mich zum Beispiel, dass man in der Apotheke ein Kräutermittel holt, anstatt sofort zum Arzt zu gehen – und wenn es hilft, umso besser. Dem steht allerdings entgegen, dass die meisten Angestellten bereits zu Beginn einer krankheitsbedingten Absenz ein Arztzeugnis einreichen müssen. Grundsätzlich zu begrüssen ist ein gesunder Lebensstil, also gesund essen, nicht rauchen, sich genügend bewegen. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Viele Menschen sind gestresst, und viele müssen arbeiten, obwohl sie eigentlich im Bett liegen sollten. Sie sind also keineswegs einfach «selber schuld», dass sie nicht gesünder leben und nicht mehr «Selbstverantwortung» übernehmen können.

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