Lieber Wind als warme Luft

Der Bundesrat hatte am Abstimmungssonntag beim Klima- und Innovationsgesetz die Mehrheit hinter sich. Die SVP und der halbe Freisinn scheinen allerdings nicht daran zu denken, den Entscheid des Souveräns zu akzeptieren. Dieser Eindruck entsteht zumindest, wenn man sich die Berichterstattung von NZZ und ‹Tagi› zu Gemüte führt. Der Reihe nach: Mit dem Ja vom Sonntag steht das Netto-Null-Ziel 2050 fest. Ebenfalls klar ist, dass es nun Beiträge für den Ersatz von fossilen Heizungen gibt und vor allem dafür, endlich die wahren Stromfresser loszuwerden, die Elektroheizungen nämlich. Alte Elektroheizungen allein verbrauchen im Winter zehn Prozent des Stroms. Werden sie durch moderne Wärmepumpen ersetzt, brauchen wir nicht «viel zusätzlichen Strom», wie vor und nach der Abstimmung immer wieder zu lesen war, sondern wir sparen unter dem Strich welchen ein.

Aber natürlich wird es Gewinner:innen und Verlierer:innen geben. Zu letzteren zählen jene, die seit Jahrzehnten prächtig vom Handel mit Benzin- und Dieselautos, Benzin, Diesel etc. leben. Oder jene, die immer noch am liebsten den überschüssigen Bandstrom der AKW dazu verwenden würden, in den Pumpspeicherkraftwerken nachts das Wasser hochzupumpen und es über Mittag, wenn Nachfrage und Preis hoch sind, gewinnbringend zu turbinieren.

Denn wenn über Mittag die Sonne scheint, wenn sich nachts die Windräder an der Nordsee drehen, wenn das europaweite Stromnetz adäquat ausgebaut ist und der europaweite Handel mindestens so gut funktioniert wie bisher, dann läuft die Versorgung mittels der Erneuerbaren bestens. Womit wir bei des Pudels Kern angelangt sind: Wollen wir bis in alle Ewigkeit so tun, als seien wir total unabhängig von wem auch immer und könnten uns, mitten in Europa, ohne Bodenschätze, ohne ausreichende Lebensmittelproduktion und ohne Meeranstoss, mit allem selbst versorgen? Oder finden wir es sinnvoller, uns mit unseren Nachbarn zusammenzutun und gemeinsam dafür zu sorgen, dass alle genügend Strom aus erneuerbaren Quellen bekommen?

Doch es gibt noch ein Problem: Angenommen, die Windräder im Norden laufen gut, sie können viel Strom liefern. Doch es sind auch AKW in Betrieb und speisen Strom ins Netz. Ihre Produktion zu drosseln beziehungsweise sie ganz abzustellen, geht nicht von jetzt auf gleich. AKW und Erneuerbare vertragen sich nicht. Also muss notgedrungen das Windrad vom Netz, damit es nicht zu einer Überlastung kommt. «Seht, es reicht eben doch nicht mit den Erneuerbaren allein!», frohlocken die Freund:innen der Atomkraft, und die Gegner:innen der Windkraft freuen sich. Beziehungsweise, so war es bis letzte Woche. Am Sonntag jedoch hat sich die Mehrheit entschieden, und zwar für die Erneuerbaren. Umso seltsamer mutet es an, dass die SVP und die halbe FDP, offensichtlich unberührt von diesem Entscheid des Souveräns, darauf beharren, das mit den Erneuerbaren funktioniere nicht, und wir müssten jetzt subito auf ihre Atom-Linie einschwenken.

Tun sie doch gar nicht!, höre ich. Nicht? In ihrem Kommentar im ‹Tages-Anzeiger› vom 19. Juni schreibt Raphaela Birrer über frei stehende Solarstromanlagen in den Alpen und Windparks, «in der konkreten Umsetzung erschwert der nach wie vor unerbittliche Widerstand von Naturschützern den Erfolg solcher Projekte». Tatsächlich? War es nicht der ‹Tagi›, der ausführlich berichtete, wie eine Nationalrätin der SVP an ihrem Wohnort Hagenbuch eine Abstandsregel für Windräder durchbrachte, die deren Bau erstens verunmöglicht und zweitens nicht mit übergeordnetem Recht kompatibel sein dürfte? Und druckt die NZZ nicht seitenlange Porträts von bürgerlichen Männern, die in Schlössern leben und sich angeblich nur deshalb gegen Windräder einsetzen, weil diese die Landschaft verschandelten? Zum Glück sind unsere Autobahnen schon gebaut…

Raphaela Birrer schreibt weiter, «im Hinblick auf den mittelfristigen Strommix muss zudem die Rolle der CO2-neutralen Atomkraft offen und ideologiefrei diskutiert werden». Warum muss sie denn das? Um Atomkraft ging es nicht bei der Abstimmung vom 18. Juni. Und der Bau neuer AKW in der Schweiz ist verboten, weil die Mehrheit der Stimmberechtigten erst vor gut sechs Jahren, am 21. Mai 2017, an der Urne den Atomausstieg beschlossen hat. Den ‹Tagi› kümmert das nicht: Anlass zu dieser «offenen und ideologiefreien» Diskussion werde die Blackout-Initiative bieten, «die das AKW-Verbot aufheben will». Warum aber sollen wir darüber diskutieren, lange bevor die nötigen Unterschriften gesammelt sind und die Initiative eingereicht ist? Weil es die SVP und die halbe FDP so wollen – und der ‹Tagi› ihr Sprachrohr ist?

Heute wolle «wegen des politischen Ausstiegsbeschlusses, der hohen Sicherheitskosten und der nicht geregelten Entsorgung niemand mehr in AKW investieren», schreibt Raphaela Birrer weiter. «Bleibt die klimaschonende Stromversorgung aber die zentrale politische Prämisse, muss konsequenterweise die Forschung zur sicheren Weiterentwicklung dieser Technologie gefördert werden – unabhängig davon, ob das AKW-Verbot fallen soll oder nicht.» Sagen die SVP und die halbe FDP… äh, sagt der ‹Tagi›, die ‹unabhängige› Schweizer Tageszeitung. Aber bleiben wir fair: Dem Komitee hinter der Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» gehören nicht nur Exponent:innen von SVP und FDP an, sondern auch Menschen von der Mitte und vom Energie Club Schweiz, also von der Atomlobby. Diese finanziert das Ganze auch, wie im ‹Infosperber› vom 30. Januar zu lesen war.

Und warum genau soll die Weiterentwicklung einer Technologie gefördert werden, in die zurzeit niemand investieren will, auch Axpo und Alpiq nicht, und das erst noch unabhänig davon, ob ein erst seit wenigen Jahren festgeschriebenes Verbot weiterbesteht oder nicht? Denn die hohen Sicherheitskosten und die nicht gesicherte Entsorgung dürften kaum über Nacht verschwinden. Trotzdem weiss der ‹Tagi›, dass das so sein muss, «konsequenterweise».

Warum diskutieren wir eigentlich nicht «offen und ideologiefrei» über die Förderung der Weiterentwicklung des Benzinmotors? In diese würde wegen des politischen Ausstiegsbeschlusses der EU per 2035, der hohen Kosten fürs Verbrennen fossiler Treibstoffe beziehungsweise für die CO2-Kompensation und der immer noch nicht geregelten Übernahme der externen Kosten, die nach wie vor an der Allgemeinheit hängen bleiben, auch niemand investieren wollen. Wäre also nur konsequent…

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