Lieber das Optimum herausholen als das Maximum voll ausschöpfen

Am 29. November wird in der Stadt Zürich über den Gestaltungsplan Thurgauerstrasse abgestimmt. Weshalb es einen Gestaltungsplan braucht und warum auch Hochhäuser vorgesehen sind, erklären Hochbauvorsteher André Odermatt und Finanzvorstand Daniel Leupi im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Worüber stimmen wir am 29. November ab?

André Odermatt: An der Thurgauerstrasse in Zürich-Seebach soll ein neuer Quartierteil entstehen. Die Zonenplanänderung und den Gestaltungsplan für eine neue Schulanlage samt Quartierpark hat der Gemeinderat bereits festgesetzt. Für den Bau der geplanten rund 700 Wohnungen für um die 1800 BewohnerInnen sowie von Gewerbeflächen braucht es ebenfalls einen Gestaltungsplan. Der Gemeinderat hat auch diesem zugestimmt, doch weil die IG Grubenacker dagegen das Referendum ergriffen hat, fällt die Entscheidung nun an der Urne.

Daniel Leupi: Wir haben von den Stimmberechtigten den Auftrag bekommen, mehr gemeinnützigen Wohnraum zu schaffen. 700 Wohnungen an der Thurgauerstrasse sind ein weiterer Beitrag dazu.

A.O.: Ein Teil dieser 700 Wohnungen sind übrigens als Alterswohnungen geplant; an solchen besteht in der Stadt Zürich ein grosser Bedarf.

 

Warum braucht es einen Gestaltungsplan? Das Gebiet ist doch schon seit vielen Jahren als Bauzone deklariert.

A.O. Es besteht dort eine Gestaltungsplanpflicht; das ist in der Bau- und Zonenordnung so festgehalten. Sollte die Vorlage an der Urne abgelehnt werden, könnte man nicht einfach die Überbauungspläne der IG Grubenacker verwirklichen: Auch dann müsste erst wieder ein Gestaltungsplan festgesetzt werden.

 

Gegen die Darstellung der geplanten Überbauung im Abstimmungsbüchlein hat eine Gruppe um das Referendumskomitee beim Bezirksrat einen Stimmrechtsrekurs eingereicht. Sie fordert, das «schönfärberische» Bild durch eine «sachgerechte Illustration» zu ersetzen. Eine solche legt die Stadt nun den Abstimmungsunterlagen bei: Haben Sie Ihren Fehler eingesehen?

A.O.: Das Verfahren beim Bezirksrat läuft noch. Wir legen die erwähnte Illustration ohne Zwang bei, wir haben nichts zu verstecken. Die gezeichnete Darstellung im Abstimmungsbüchlein ist massstäblich korrekt – und ja, sie ist ein Stimmungsbild. Der Grund, weshalb wir uns dafür entschieden hatten, ist der: Nimmt man eine nüchterne Volumenskizze, dann sehen die Leute fixe «Klötze» und denken, genau so werde dereinst gebaut – was aber eben gerade nicht der Fall ist, denn wir stimmen ja nicht über ein Projekt ab, sondern über einen Gestaltungsplan. Ich bin jedenfalls gespannt auf den Entscheid des Bezirksrats.

 

Und wird es an der Thurgauerstrasse dereinst so grün wie auf dem Stimmungsbild?

A.O.: Nein, es wird noch grüner… Der Gemeinderat hat unsere Vorlage um zusätzliches Grün ergänzt.

D.L.: Wo die Stadt baut, will sie auch dem Stadtklima Rechnung tragen. Grosskronige Bäume helfen Hitzeinseln zu vermeiden. Das ist auch an der Thurgauerstrasse geplant.

 

Laut Gestaltungsplan sind ein Hochhaus mit 70 Metern, zwei Hochhäuser mit 60 Metern sowie zwei Gebäude mit 30 Metern Höhe zulässig. Hochhäuser zu bauen ist teurer als der Bau von ‹gewöhnlichen› Blöcken: Können Sie Herr Leupi, dies als Hüter der Stadtkasse verantworten?

D.L.: Sicher kann ich das: Erstens gilt Kostenmiete. Die Gebäude werden vollumfänglich durch die Mieten getragen, nicht durch Steuermittel. Zweitens ermöglichen hohe Bauten eine qualitätsvolle Verdichtung. Ab 30 Metern Höhe gibt es tatsächlich Mehrkosten, was mit höheren Auflagen zu tun hat. Doch bis baureife Projekte für das Gebiet an der Thurgauerstrasse bestehen, dauert es noch eine Weile, und bis dann können wir von Erfahrungen profitieren, die dereinst zum Beispiel die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich ABZ auf dem Koch-Areal gemacht haben wird. Sie erstellt dort bekanntlich ein Wohnhochhaus.

A.O.: Auch die städtische Überbauung Letzibach, die der Gemeinderat letzte Woche verabschiedet hat, sieht Hochbauten vor, und auch dort werden wir Erfahrungen machen, auf die wir dereinst an der Thurgauerstrasse werden zurückgreifen können.

 

Der Gestaltungsplan ist noch kein fertiges Projekt: Wie erklären Sie den Stimmberechtigten, was es damit auf sich hat?

A.O.: Ein Gestaltungsplan ist insofern eine abstrakte Sache, als dass er lediglich das Maximum nennt, das beim Bauen nicht überschritten werden darf, also beispielsweise eine maximale Höhe oder Breite. Weniger hoch oder breit zu bauen, ist folglich ausdrücklich erlaubt. Ein gutes Beispiel für diesen Mechanismus ist das Schulhaus Thurgauerstrasse: Dort bot der Gestaltungsplan den Architektenteams, die sich am Wettbewerb beteiligten, einen gewissen Spielraum, den diese kreativ zu nutzen wussten.

D.L.: Es geht stets ums Abwägen: Liegenschaften Stadt Zürich und ich haben nicht vor, im Rahmen der Wettbewerbe unbedingt die maximale Dichte auszuschöpfen. An der Thurgauerstrasse sollen auch genügend Grünraum oder Flächen fürs Gewerbe Platz haben. Unser Ziel ist es, das Optimum aller Ansprüche herauszuholen, und ich denke, das gelingt dereinst den ArchitektInnen besser, wenn sie, wie beim Schulhaus, einen gewissen Spielraum haben. Den gewährleistet ihnen der vorliegende Gestaltungsplan.

 

Dennoch: Mit einer Blockrandbebauung lässt sich eine vergleichbar hohe Dichte erreichen wie mit einem Wohnhochhaus. Weshalb müssen an der Thurgauerstrasse unbedingt Hochhäuser gebaut werden?

A.O.: Wir könnten natürlich die geplanten Volumina auch mit grossem Fussabdruck übers ganze Areal ‹verstreichen›. Der Vorschlag, den der Stadtplaner Jürg Sulzer für die IG Grubenacker erarbeitet hat, sieht zum Beispiel zirka zehnstöckige Bauten – mit den entsprechenden ‹Schluchten› dazwischen – vor. Wir aber wählen einen anderen Weg, indem wir differenzieren. Und zwar zugunsten von grünen Innenhöfen, Vorgärten und Fusswegen durchs Areal. Das Hochhaus ist dabei ein sehr wichtiges Gestaltungsmittel.

D.L.: Man kann sich das so vorstellen: Wenn ich eine Legoplatte und eine Anzahl Legosteine vor mir habe, dann kann ich einfach die ganze Platte mit Legosteinen bedecken. Wenn ich ein paar davon aufeinander stecke, dann habe ich mehr Freiraum zwischen den einzelnen Steinen.

A.O.: Durch die Abstufung der Baukörper in der Höhe, von 70 auf 60 auf 30 Meter und tiefer, entsteht entlang der Thurgauerstrasse eine Rhythmisierung – und Platz für Freiräume. Zum Grubenacker-Quartier hin können die Häuser dann mit drei bis fünf Stöcken angedacht werden. Kommt hinzu, dass die Einfamilienhäuser an der Grubenackerstrasse gemäss gültiger Bau- und Zonenordnung drei Stockwerke haben dürfen, und wenn sich mehrere Eigentümer zusammentun, wären auch vier oder noch mehr möglich. Deshalb finde ich es auch eine tolle Idee der IG Grubenacker, eine Genossenschaft zu gründen. Das eröffnet nicht zuletzt die Möglichkeit, neue Modelle zu erarbeiten und auszuprobieren, von der Zusammenarbeit mit anderen Genossenschaften bis hin zum Zusammenlegen und gemeinsamen Überbauen von Land.

D.L.: An der Thurgauerstrasse soll zudem nicht nur die Höhe der Baukörper abgestuft werden, sondern wir wollen auf diesem grossen Perimeter auch nicht alles aufs Mal überbauen, sondern etappiert: Die einzelnen Baufelder werden nicht alle gleichzeitig ausgeschrieben werden. Überhaupt will Liegenschaften Stadt Zürich im weiteren Vorgehen Spielräume für die Innovation der zukünftigen Wohnbauträger schaffen und langfristig tragfähige Betriebskonzepte ermöglichen, die Kosten sparen.

 

Auch ein Vorgehen im Dialog mit der IG Grubenacker ist demnach immer noch möglich – oder sind Sie eingeschnappt, seit diese das Referendum ergriffen hat?

A.O.: Sicher nicht, wir sind nach wie vor im Dialog mit allen Beteiligten. Wir haben in der Vergangenheit ja nicht nur mit der IG, sondern mit allen EinfamilienhausbesitzerInnen Veranstaltungen gemacht und über die Pläne an der Thurgauerstrasse informiert. Dass der Dialog etwas ausgesetzt wurde, während das Referendum lief, dürfte keinen überraschen, aber wir sind niemandem böse und parat, den Faden wieder aufzunehmen.

D.L.: Der Zürcher Dachverband der Wohnbaugenossenschaften, der das Ganze kritisch begleitet hat, verhält sich nun neutral und hat keine Empfehlung für die Abstimmung herausgegeben: Auch hier spricht nichts gegen eine Fortführung des Dialogs für die Entwicklung des Areals.

 

Bezüglich der Partizipation der Bevölkerung gibt es immer wieder Ärger, kürzlich zum Beispiel beim geplanten Schulhaus in der Grünau. Hat die Stadt in den letzten Jahren in Sachen Partizipation dazugelernt, und wenn ja, was?

A.O.: Wir lernen immer dazu. Zur Thurgauerstrasse fand die erste Information fürs Quartier anlässlich der Testplanung 2014 statt. Möglichst früh den Kontakt zum Quartier zu suchen, ist sehr wichtig. In der Grünau waren wir tatsächlich eher spät dran. Doch auch wenn es so viele Informationsanlässe und sonstige Veranstaltungen gibt wie zur Thurgauerstrasse, ist natürlich nicht automatisch gewährleistet, dass alle alles gut finden, was wir vorschlagen.

D.L: Zu sagen, wir hätten immer alles perfekt gemacht, wäre übertrieben, aber umgekehrt arbeitet die Stadt sicher nicht gegen die Quartiere. Es gibt auch grosse Unterschiede zwischen den Quartieren. Beim Guggach-Areal stösst der Wohnbau der Stiftung Einfach Wohnen, das Schulhaus und der Park auf grosse Zustimmung im Quartier. 

 

Zum Gestaltungsplan sind sehr viele Einwendungen eingegangen. Von Menschen, die von Partizipationsprozessen enttäuscht sind, ist zu hören, solche Einwendungen würden sowieso nicht ernst genommen, die Stadt mache einfach, was sie immer schon habe machen wollen. Ist das so?

A.O. Nein, das ist definitiv nicht so. An der Thurgauerstrasse haben wir aufgrund der Einwendungen beispielsweise 2500 m2 Nutzfläche sowie die Stockwerke zur Grubenstrasse hin reduziert. Wir haben die Fassade und die Höhen nochmals differenziert und die Fassade mit Vor- und Rücksprüngen gestaltet…

D.L: …und wir haben ermöglicht, dass Bestehendes erhalten bleiben kann wie etwa das Schützenhaus. Und, nochmals: Auch das aufgrund der Einwendungen reduzierte Maximum muss nicht voll ausgeschöpft werden.

 

Für das Projekt Thurgauerstrasse liessen sich gar keine Bauträger finden, wurde einst gemunkelt, die Genossenschaften jedenfalls seien nicht interessiert: Macht Ihnen das Sorgen?

A.O.: Nein, solche Unkenrufe beunruhigen mich nicht. Ich denke, dass wir nach dem Abstimmungssonntag einen guten Prozess starten und mit Bewerbungen für die einzelnen Baufelder rechnen können.

D.L. Im übrigen sind auch Liegenschaften Stadt Zürich, die Stiftung Wohnungen für kinderreiche Familien, die Stiftung Einfach Wohnen oder die Stiftung Alterswohnungen der Stadt Zürich sehr daran interessiert, an der Thurgauerstrasse neuen Wohnraum zu schaffen.

 

Wird der Gestaltungsplan abgelehnt, dann wird das Schulhaus dennoch gebaut. Ohne die Kinder aus den 700 Wohnungen, die dann nicht gebaut werden können, steht es voraussichtlich leer, oder?

A.O.: Nein, diese Gefahr besteht nicht. Im Leutschenbach steht eine grosse private Überbauung namens «Wolkenwerk» kurz vor der Vollendung, und auch Liegenschaften Stadt Zürich ist in der Nähe am Bauen. Das Schulhaus braucht es so oder so.

 

Entlang der Thurgauerstrasse sieht der Gestaltungsplan Platz fürs Gewerbe vor. Doch mal ehrlich: Wer soll entlang dieser lärmigen Strasse die Erdgeschosse beleben? Wer will dort ‹käfele› gehen?

D.L.: Da bin ich zuversichtlich: Wenn jemand ein gutes Angebot hat, dann findet er auch AbnehmerInnen. Ich beobachte an vielen Orten in der Stadt, dass die Bevölkerung Gastrobetriebe auch an dicht befahrenen Orten oder nahe an der Strasse en masse belebt. Und Ateliers sind auch stets gefragt.

A.O.: Die Zeit ist ein wichtiger Faktor: Lässt man Erdgeschossnutzungen über einen gewissen Zeitraum entstehen, haben sie ein unglaubliches Potenzial. Ein Beispiel: Auch die heute lebendige Sihlfeldstrasse mit neuen Läden und dem Verkauf von «Kafi über d’Gass» ist nicht über Nacht entstanden. Ich vertraue auf die Phantasie der Leute und glaube daran, dass auch an der Thurgauerstrasse Ideen zum Fliegen kommen werden.

D.L.: Nicht zuletzt kann man dort dem produzierenden Gewerbe eine Chance geben, also jenen, deren Tätigkeit auch mal etwas Lärm macht.

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