Mehr Schäden im Schweizer Wald als während des «Waldsterbens» 

Der Schweizer Wald ist heute so krank wie nie seit 1984. Die wichtigste, aber nicht alleinige Ursache: Das extrem warme und trockene Klima im Jahr 2018.

 

Hanspeter Guggenbühl

Wer sich längerfristig mit dem Zustand des Schweizer Waldes befasst, geht durch ein Wechselbad der Gefühle. Zwischen 1983 und 1986 wurden die Baumkronen lichter und einige Forscher, unter ihnen der damalige Direktor der Eidgenössischen Wald-Forschungsanstalt, Walter Bosshard, befürchteten ein baldiges «grossflächiges Absterben» der Wälder als Folge der damaligen Luftverschmutzung. Der Begriff «Waldsterben» machte jahrelang Schlagzeilen.

 

Vom «Waldsterben» zur «Waldsterbenslüge» 

Doch die negativen Prognosen bewahrheiteten sich nicht und gaben jenen Auftrieb, welche Forschende und Medien der «Waldsterbenslüge» bezichtigten. Umstritten blieb dabei, ob die Warnungen vor dem «Waldsterben» auf Übertreibungen und Fehleinschätzungen beruhten. Oder ob veränderte Verhältnisse den Zustand des Waldes ab den 1990er-Jahren – bei jährlichen Schwankungen – wieder stabilisierten. 

Fest steht: Ab Ende der 1980er-Jahre verminderte sich die Luftverschmutzung in der Schweiz und später auch im übrigen Europa. Strenge Abgasnormen und Filtertechniken senkten insbesondere den Ausstoss von Schwefeldioxid, Stickoxiden, Kohlenwasserstoffen sowie die Bildung von Ozon. Seither sind Berichte über die Gefährdung des Waldes in der Schweiz und in Europa seltener geworden; Schlagzeilen machten fortan vor allem Extremereignisse wie etwa der Wintersturm Lothar kurz vor der Jahrtausendwende oder periodischer Borkenkäfer-Befall bei Fichten. Der Ausstoss der klimawirksamen Gase wie CO2 und damit die Klimaerwärmung setzten sich fort. 

Im Juni 2020 befanden die Eidgenössische Forschungsanstalt für Schnee, Wald und Landschaft (WSL) und das Bundesamt für Umwelt in einer gemeinsamen Medienmitteilung, der «Schweizer Wald ist generell in gutem Zustand, aber wegen Klimawandel unter Druck». Dabei stützten sie sich auf das gleichzeitig veröffentlichte vierte Landesforstinventar, das die Situation im Zeitraum von 2009 bis 2017 erfasste. 

 

Trockener Sommer 2018 leitete negative Wende ein 

Doch inzwischen ist alles wieder anders. Im Gefolge der extremen Trockenheit während der Vegetationsperiode im Jahr 2018 waren die Waldschäden im Jahr 2019 in der Schweiz so gross wie nie seit der Trockenperiode kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings bestehen je nach Region, regionalem Witterungsverlauf, unterschiedlicher Bodenbeschaffenheit und unterschiedlichem Stickstoffeintrag an verschiedenen Standorten (verursacht durch Überdüngung und Verkehr) beträchtliche Abweichungen vom Durchschnitt und vom allgemeinen Trend. Das zeigen die neusten Studien über die Entwicklung der Waldschäden in der Schweiz, welche die ‹Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen› kürzlich veröffentlichte.  

Darin schreiben die WSL-Forscher Andreas Rigling und Manfred Stähli unter dem Titel «Erkenntnisse aus der Trockenheit 2018 für die zukünftige Waldentwicklung»: «Die extreme Hitze und Trockenheit hinterliess schon während des Sommers 2018 deutlich sichtbare Spuren an vielen Baumarten – speziell auffallend und stark ausgeprägt waren frühzeitiger Laubfall, Rindenrisse und absterbende Kronenteile an der Buche. Die Borkenkäferschäden an der Fichte verdoppelten sich im Vergleich zum Vorjahr. Aussergewöhnlich war nicht die Art der Schäden, sondern ihr Ausmass, das in dieser Art in den letzten Jahrzehnten nie beobachtet worden war.» 

 

Waldschäden heute grösser denn je seit Beginn der Erhebungen 

Langfristig besonders aussagekräftig sind die Erhebungen des Institutes für Angewandte Pflanzenbiologie (IAP). So untersucht das IAP schon seit 1984 im Auftrag von mehreren Kantonen die Waldbestände im Schweizer Mittelland; dies heute auf insgesamt 185 Flächen mit rund 14 000 Bäumen. Als Beispiel zeigt obenstehende Grafik des IAP, wie sich die Anteile der stark (mehr als 60 Prozent) verlichteten Baumkronen der Buchen von 1984 bis 2020 auf verschiedenen Standorten entwickelten.

Bei diesem langfristigen Inventar des IAP fällt auf: Nach Jahrzehnten mit jährlichen Schwankungen auf relativ tiefem Niveau hat sich der Anteil der stark verlichteten Baumkronen der Buchen im Jahr 2019 verdreifacht und blieb 2020 auf vergleichbar hohem Niveau. Ähnlich verlief die Entwicklung auch bei den Fichten. Die Lage ist heute also rund dreimal schlimmer als in den 1980er-Jahren, als die Warnung vor dem Waldsterben die Umweltdebatte prägte.  

Die Auswahl dieser Resultate ist aus zwei Gründen relevant: Buchen und Fichten sind heute (mit einem Anteil von mehr als der Hälfte) die am meisten verbreiteten Bäume im Schweizer Wald. Und Bäume mit mehr als 60 Prozent Blatt- und Nadelverlust (im Vergleich zu einem voll belaubten oder benadelten Baum) gelten als schwer geschädigt; sie erholen sich kaum mehr, selbst wenn trockenen Perioden eine regenreiche Periode folgt. Als Folge davon dürften in den nächsten Jahren auch mehr Bäume absterben als in früheren Jahren. 

Sabine Braun, langjährige Leiterin des IAP, kommentiert und differenziert die neusten Resultate aus der 35jährigen Beobachtungszeit mit folgenden Worten: «Der Anteil von Buchen mit einer Kronenverlichtung von über 60 Prozent war 2019 und 2020 sechsmal höher als im Mittel der gesamten Beobachtungszeit. In einigen Flächen waren bis zu 41 Prozent der Buchen mit mehr als 60 Prozent verlichtet. Die Buchenmortalität war 2019 und 2020 um das Vier- bis Fünffache erhöht. Auf Flächen mit mangelhafter Phosphorversorgung – unter anderem eine Folge hoher Stickstoffeinträge – war die Erhöhung noch deutlich stärker. Bei den Fichten stieg die Mortalität durch Buchdruckerbefall bis zum Herbst 2019 auf einen Rekordwert von 4,9 Prozent und lag damit um ein Vielfaches höher als nach dem Hitzesommer 2003. Das ist ein wichtiger Hinweis da­rauf, dass die Schäden 2019 nicht allein die Folge der extremen Trockenheit 2018, sondern vielmehr das Ergebnis mehrerer vorangegangener Trockenjahre waren. Auch hier sind die Schäden bei hoher Stickstoffbelastung durch die Luft deutlich höher.»

 

Klimawandel prägt Zukunft des Schweizer Waldes 

Der aktuell negative Befund über den Schweizer Wald, so lehrt der Blick zurück, kann sich wieder verbessern, zum Beispiel dann, wenn den überdurchschnittlich warmen und trockenen Jahren ab 2015 wieder eine mehrjährige Periode mit kühleren Temperaturen und unterdurchschnittlichen Temperaturen folgen sollte. Doch diese Hoffnung ist relativ gering, wenn man die starke Häufung von extrem heissen und extrem trockenen Jahren sowie die Szenarien für die künftige Entwicklung des Klimas in der Schweiz betrachtet. 

So folgern die WSL-Waldforscher Rigling und Stähli in ihrem schon eingangs zitierten Bericht: «Wir müssen davon ausgehen, dass das kombinierte Auftreten von Trockenheit, Stürmen, Krankheiten und Schädlingen innert kurzer Zeit ganze Landschaften massiv verändern kann und unter anderem auch das Paradigma der stabilen Buchenmischwälder infrage stellt. Die Zukunft unserer grossen Laubwaldgebiete wird also davon abhängen, wie sich die Witterung in den kommenden Jahren entwickelt und wann nach 2003, 2015 und 2018 die nächsten Extremjahre folgen.»

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