«Lagerregal» rückwärts

Understatement ist einfach eine sehr entspannte Haltung, und wie sie Simon Dellsperger und sein Team an den «Schwamendinger Kurzauftritten» gegenüber allen – Publikum wie Auftretenden – pflegt, ist einfach nur sehr sympathisch. Die Qualität der ausgesuchten Kunstpräsentationen gedeiht auf so einem Boden prächtig.

 

Die Versuchsanlage der Kurzauftritte – 18 subjektiv ausgewählte KönnerInnen erhalten an zwei Tagen je zehnminütige Carte-Blanches – schrie förmlich nach einem Jahrmarkts-Sensationsausrufer. Doch Jesko Stubbe – «nur kurz» – stellt die Auftretenden immer erst nach ihrem Einsatz namentlich vor. Egal, ob ein eben gezeigter Kurzfilm im Filmmekka Hollywood Preise abgeräumt hat, eine Perkussionistin zu den letztjährigen PreisträgerInnen des Schweizer Musikpreises gehört oder ob jemand seine Kunstfertigkeit bereits seit 60 Jahren beherrscht und pflegt. Ohne Trallala-Hurra-Ankündigung begegnet man als Publikum allen Einzelstücken mit derselben Offenheit und Neugier. Am Vermögen Jesko Stubbes liegts nicht: Wenn er die Versteigerungen leitet, tönt das nach ultraschnell-schierunverständlicher Rindergant.

 

Pudelwohl

Auch die Frage, was Kunst sei, wird hier originär beantwortet. Alles, was Spass macht. Ob eine Performance in ein diesbezügliches Genre passt oder eigentlich Sport ist oder schon Wissenschaft, solche Spitzfindigkeiten spielen hier grad überhaupt gar keine Rolle. Wenns dann noch temperaturmässig nicht ganz so frisch wäre in der offenen Trinkhalle, man fühlte sich auch noch körperlich pudelwohl. Auf oder hinter dem Hügel, je nach Perspektive, kann auch ganz gelassen vergessen werden, was sonstwo geschieht. Wenns relevant ist, passierts auf der Bühne. So etwa die Stellwerkstörung am Bahnhof Bern vom letzten Freitag, die das Lokführer-Kondukteur-Musiker-Duo Ueli Apfelboeck und César LeBoef in quasi Echtzeit als Film mit Musik mitgebracht hatten. Mit Echtzeit und physischer Anwesenheit spielten auch Nina Willimann (vor Ort) und Mayumi Arai (in Tokio) gewitzt. Nina Willimann als ferngesteuerter Avatar von Mayumi Arai lenkte ihrerseits wiederum das Handeln des versammelten Publikums, was als Resultat zurück nach Japan übertragen wurde. Wer führt auf, wer schaut zu, wo befindet sich die Grenzlinie zwischen Unterhaltung und Manipulation?

 

Grenzüberschreitend

Hans Koch überträgt diese Frage auf ein Sopransaxophon, das auch Töne spucken kann, ohne zu klingen und Unwetter evozieren, wo sternenklarer Himmel ist. Julia Kuster wiederum kann Zeichnungen tanzen wie auch total ernst à la Brotjob der Gerichtszeichnerin ein Portrait der/des Höchstbietenden an der zweiten Auktion dieses Wochenendes als Preis in Echtzeit und Aquarell herstellen. Zwei nicht mehr ganz so junge, nicht mehr ganz so schlanke Herren stehen ihre zehn Minuten einfach auf ihren Radball-Velos, passen sich den Ball zu, hüpfen um ihn herum und ertragen die geballte Glotzerei des (mit Abstand) vollen Saals mit augenscheinlich nach oben gebogenen Mundwinkeln: Björn Reiser und Heinz Schläpfer. In ihrem Fach Koryphäen (wie ganz viele hier)! Genauso der Hamburger Biologe und Fachjournalist Uwe Westphal, der Vogelstimmen imitiert, als wärs ein Kinderspiel. Nur der Gesang der Nachtigall, gesteht der Pfiffvirtuose, übersteige jedes menschliche Vermögen. Grenzen kennt auch die anonym und nicht erkennbar auftretende Wortakrobatin, die auf Zuruf alles rückwärts sagen kann. Konzernverantwortungsinitiative zum Beispiel geht ganz fix, Lagerregal ist als Palindrom witzig, aber bei zu langen Sätzen ist auch hier mal Ende Feuer.

 

Kurzweil

Weil die Bühne höher als die Köpfe des Publikums liegt, ist es nicht möglich, von oben auf die Geschehnisse zu blicken. Im Fall der Perkussionistin Béatrice Graf etwa steigert dies die Rätselhaftigkeit, welche Materialbeschaffenheit jetzt wohl so klingen könnte. Blech oder doch Porzellan oder ganz was anderes. Ihr Instrument jedenfalls besteht aus allem ausser herkömmlicher Schlagzeugbauweise. Um sowas wie Harmonie oder Melodie foutiert sich der Noise-Künstler Joke Lanz regelrecht, der ganz zum Schluss der zwei Tage den Rausschmeisser gab – und auch seine Vinylplatten nicht eben sanft behandelt. Bei Lotti Bauers Filmen ist der Umgang mit der Tonvorlage – vermutlich telegene Bedienungsanleitungen für Putzhandschuhe und ähnlich Sinnstiftendes – deutlicher als sichtlich humoristisch erkennbar als bei Joke Lanz, dessen Töne aber auch nicht völlig frei von Komik zueinander kombiniert sind. Die Musik hatte, ein Mitideengeber war wieder Phil Hayes, auch dieses Mal einen leichten Überhang. Aber sie reichte formal dafür auch von Fast-Hendrix-Gitarrist Asep Stone über eine vertonte Grundsatzinfragestellung der eigenen Existenz von Sarah Palin bis zu einem Videogruss des Linkshändergitarristen, der seine Klampfe trotzdem mit rechts spielt: Marc Ribot. Kurzum: Lustig wars und kurzweilig und lehrreich und hoffentlich wiederkehrend.

 

«4. Schwamendinger Kurzauftritte», 2./3.10., Trink­halle der Wirtschaft Ziegelhütte, Zürich.
www.watzdameyer.ch/filiale

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