Lärm, lass nach

Übermorgen ist ein grosser Tag: Per 31. März 2018 sind alle Hauptstrassen sowie alle übrigen Strassen in der Schweiz lärmsaniert. Tatsächlich? Leider nein: Zwar besteht die Pflicht, den Strassenlärm zu verringern, seit das Umweltschutzgesetz und die Lärmschutzverordnung in Kraft getreten sind. Das war 1985 beziehungsweise 1987. Doch das Ziel, die Bevölkerung vor Strassenlärm zu schützen, ist noch längst nicht erreicht. Kommt hinzu, dass technische Massnahmen wie Lärmschutzwände oder -fenster viel Geld kosten, Geld, das nicht zuletzt der Bund beisteuert. Folgerichtig verlangte Ständerat Filippo Lombardi (CVP) mit einer Motion, dass der Bund auch nach dem 31. März 2018 Beiträge an gewisse Strassenlärmsanierungsprojekte leisten solle. Die Motion kam durch.

 

Der Strassenverkehr ist auch in Zürich der grösste Lärmverursacher. Rund 140 000 Menschen leben in Liegenschaften, bei denen die Immissionsgrenzwerte überschritten sind. Davon sind rund 10 000 Menschen von einer Alarmwertüberschreitung betroffen. Die Stadt Zürich setzt zwar seit längerem auf die Lärmbekämpfung an der Quelle, namentlich mittels Tempo-30-Zonen. Doch das ist einfacher geschrieben als in die Tat umgesetzt: «ACS und TCS wehren sich juristisch gegen Temporeduktionen auf 67 Stadtzürcher Strassenabschnitten. Sie halten Tempo 30 für den falschen Weg, um die Bevölkerung effektiv vor Lärm zu schützen», war am 6. Februar auf ‹NZZ Online› zu lesen. Und weiter: «Vor Bundesgericht sind derzeit Rekurse zu 52 Strassenabschnitten hängig, vor dem Stadtrat oder dem Statthalteramt sind es deren 15. Severin Pflüger, FDP-Gemeinderat und Anwalt, vertritt die Verbände juristisch. Wann mit Entscheiden zu rechnen sei, könne er nicht sagen (…).»

 

Nebst den Klagen gegen neue Tempo-30-Zonen gibt es natürlich auch Proteste und Klagen wegen des Lärms. Der VCS Schweiz hat am 9. Februar eine Petition lanciert, mit der er den Bundesrat und die Kantone auffordern will, «endlich die Lärmschutzvorschriften umzusetzen». Und der VCS Zürich ist, wie man auf seiner Website nachlesen kann, «dezidiert der Meinung, dass die Bevölkerung ihr verfassungsmässiges Recht auf Ruhe auch einfordern soll».

 

Der Nationalrat hat ein Postulat von Guillaume Barazzone (CVP) für einen «nationalen Massnahmenplan zur Verringerung der Lärmbelastung» angenommen. Darin heisst es unter anderem: «Unter bestimmten Voraussetzungen, die das Bundesgericht festgelegt hat, können Personen, die übermässigem Lärm ausgesetzt sind, die Lärmverursacher wegen Werteverlust ihres Eigentums auf Schadenersatz verklagen. Der Bundesrat beabsichtigt, die richterlichen Voraussetzungen durch eine gesetzliche Regelung zu ersetzen, d. h. durch eine automatische Ausgleichszahlung an die Eigentümerinnen und Eigentümer (…). Diese Revision würde den lokalen Gebietskörperschaften enorme Kosten verursachen und ihre Kapazität verringern, Massnahmen zur Reduzierung von übermässigem Lärm zu ergreifen.»

 

In der Stadt Zürich führen die Automobilverbände ACS und TCS den Kampf gegen Tempo 30 an. Auf der Website des Hauseigentümerverbands (HEV) Schweiz wiederum heisst es, «das Thema Lärm war für den HEV Schweiz schon immer von zentraler Bedeutung. Insbesondere aufgrund der Gefahr, dass Liegenschaften infolge einer Lärmbelastung massiv an Wert verlieren können». Im Vorstand des HEV Schweiz sitzt auch der Direktor des HEV Zürich, FDP-Gemeinderat Albert Leiser. Sein Fraktionskollege Severin Pflüger, CVP-Gemeinderat Markus Hungerbühler und SVP-Kantonsrat (früher Gemeinderat) Roland Scheck sind im Vorstand der ACS-Sektion Zürich, SVP-Gemeinderat Roger Bartholdi ist Vorstandsmitglied der Gruppe Zürich Stadt des TCS. Für gute Zusammenarbeit dürfte also gesorgt sein: Die einen bekämpfen mit Tempo 30 eine unterdessen in breiten Kreisen als wirkungsvoll anerkannte Massnahme zur Lärmreduktion, die andern sorgen dafür, dass Hausbesitzer eine Entschädigung erhalten, wenn der Lärm den Wert ihrer Liegenschaften tangiert.

 

Dazu passt Albert Leisers Editorial im ‹Zürcher Hauseigentümer›, Ausgabe 02/2015. Leiser erwähnt die Flüsterbeläge, die Stadtrat Filippo Leutenegger an einer Sitzung als Alternative zu Tempo 30 eingebracht habe. «Was liegt näher, als auf die Einführung von Tempo 30 zu verzichten oder sie wenigstens solange zu sistieren, bis allfällige noch offene Fragen zu den Flüsterbelägen geklärt sind?», fragt Leiser. «Das setzt allerdings eine unvoreingenommene Betrachtung voraus», fährt er fort: «Man müsste sich eigentlich für das wirksamere Lärmbekämpfungsmittel entscheiden. An der Beantwortung dieser Frage wird sich denn auch zeigen, ob es dem Zürcher Stadtrat um eine Entlastung der Bevölkerung von Lärmverkehr geht oder nicht doch, wie immer vermutet, um die Strangulierung des Automobilverkehrs.»

 

Mal abgesehen davon, dass Leuteneggers Flüsterbeläge seit längerem vom Radar gerutscht sind: Wer befürchtet, der Autoverkehr werde «stranguliert», will natürlich kein Tempo 30. Er nimmt damit in Kauf, dass die lärmbetroffenen Menschen weiterhin um ihr Recht auf eine lärmsanierte Umgebung geprellt werden. Aber die Eigentümer, die vielleicht nicht einmal in ihrem lärmbelasteten Haus wohnen, die sollen entschädigt werden. Ob seine MieterInnen lieber weniger Lärm hätten als mehr Geld auf seinem Konto, braucht den Vermieter ja nicht zu interessieren… Übrigens: Wer nicht glaubt, dass Tempo 30 wirkt, sollte sich mal die Zürcher Weststrasse ansehen. Die Mieten dort sind exponentiell gestiegen, seit diese Strasse keine halbe Autobahn mehr ist. Die HauseigentümerInnen haben enorm viel mehr verdient, als sie je in Form von Entschädigungen bekommen könnten.

 

Müssen wir folglich gegen Tempo 30 sein, damit wir uns das Wohnen weiterhin leisten können? Sicher nicht: Erstens gilt das Gesetz für alle, und zweitens darf Lärmschutz auch unabhängig davon kein Luxusgut sein, das sich nur die Reichen leisten können. Die meisten HauseigentümerInnen jedoch sind nicht derart bedürftig, dass sie Subventionen in Form von Entschädigungen nötig haben. Dieses Geld stecken wir besser in den Bau von weiteren Tempo-30-Zonen und, wo es nicht anders geht, halt in Lärmschutzfenster. Davon profitieren nicht nur die HauseigentümerInnen, sondern alle. Denn ist erst mal der Grossteil eines Quartiers lärmberuhigt, können gierige Vermieter-Innen nicht mehr die ruhige Lage vorschieben, um überhöhte Mieten zu verlangen. In diesem Sinne: Ruhige Ostern allerseits!

 

Nicole Soland

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