«Für die KurdInnen geht es ums Überleben»

Seit Januar gehen KurdInnen in Zürich regelmässig auf die Strasse. Was es mit den anhaltenden Protesten auf sich hat, erklärt Muammer Kurtulmus, Gemeinderat Grüne und Mitorganisator der Mahnwache von letzter Woche (P.S. berichtete), im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Am 19. Januar begannen die Angriffe der türkischen Streitkräfte auf die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien, einige Wochen danach wurde die Stadt Afrin erst eingekesselt und dann besetzt. Seither wird in ganz Europa protestiert: Hat diese Stadt eine spezielle Bedeutung für die KurdInnen?

Muammer Kurtulmus: Für die KurdInnen geht es angesichts der aktuellen Lage in Nordsyrien ums Überleben. In den letzten Jahren gelang es ihnen, diese Region unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie konnten selbst bestimmen und, was ganz wichtig ist, neue Gesellschaftsmodelle ausprobieren. Das droht seit dem Beginn der Angriffe der türkischen Armee verloren zu gehen. Die KurdInnen jedoch wollen ihr Gebiet und ihre Vorstellungen eines friedlichen Zusammenlebens um jeden Preis verteidigen.

 

Und weshalb will die Türkei das um jeden Preis verhindern?

Die türkische Armee und ihre Verbündeten sind – das ist unterdessen vielen klar – eine andere Version des IS. Es sind radikal-islamistische Gruppierungen, die nur schon aus ihrem Islam-Verständnis heraus alles bekämpfen, was den KurdInnen am Herzen liegt.

 

Erdogan, der Islamist?

Staatspräsident Erdogan ist ein pragmatischer Islamist. Er kann mit allen unterwegs sein. Aktuell sind die islamistischen Gruppen für ein Zusammengehen zu haben, denn sie sind daran interessiert, sichtbarer zu werden und eine bessere Position zu erlangen. Da-rauf beruht die Kooperation. Der Hintergrund jedoch ist folgender: Erdogan ist in der Türkei nicht völlig allein an der Macht, sondern zusammen mit den traditionellen Kräften der Republik, die eine repressive Kurdenpolitik betreiben und das schon immer taten. Wir haben es folglich nicht nur mit einer islamistischen Politik Erdogans zu tun, sondern auch mit der Politik all jener, die immer schon gegen die KurdInnen waren. Und das passt irgendwie nicht zusammen. Aber sie machen zurzeit gemeinsame Sache, weil sie einen gemeinsamen Feind haben. Deshalb komme ich zur Aussage, Erdogan sei mal Islamist, mal Kemalist, mal Nachfolger von Atatürk: Was für ihn zählt, ist ganz einfach, dass er an der Macht ist – und an der Macht bleibt.

 

Er ist vor allem Opportunist?

Genau. In den letzten Jahren änderte sich die türkische Politik denn auch gleich mehrmals. 2012 bis 2015 gab es den sogenannten Friedensprozess, der mit einer anderen Kurdenpolitik einherging. Der Staat führte Verhandlungen, sogar mit dem Kurdenführer Abdullah Öcalan, und es wurde in der Öffentlichkeit darüber berichtet. Im Zuge dieser Öffnung wurde auch die prokurdische Partei HDP stärker, deren Politik für viele oppositionelle Kräfte in der Türkei akzeptabel ist. In diesen drei Jahren war es ruhig und soweit alles in Ordnung. Ausschlaggebend für die heutige Politik aber war, dass die Kurden in Syrien seither sehr viel stärker geworden sind. Und das ist für die Türkei beziehungsweise für jene, die eine repressive Kurdenpolitik führen wollen, ein Albtraum: Dass die Kurden an der Grenze zur Türkei ein autonomes Gebiet haben, in dem sie herrschen, möglicherweise gar einen eigenen Staat gründen können. Das wollen sie mit allen Mitteln verhindern.

 

Zusammengefasst: Solange die kurdischen Krieger in Syrien die Kohlen aus dem Feuer holten, war alles in Ordnung. Dass die KurdInnen dadurch stärker werden könnten, war jedoch nicht vorgesehen – und schon gar nicht erwünscht.

Ja, zumal auch der Friedensprozess eine taktische Angelegenheit war. Ich glaube nicht, dass Erdogan davon überzeugt war, dass der Friedensprozess eine gute Sache sei. Ihn interessierte wie immer hautpsächlich, wie er selber noch stärker werden konnte. In jener Zeit konnte er die Armee etwas zurückdrängen, die in der Türkei bekanntlich immer stark war und etwas zu sagen hatte. Natürlich tat er das zusammen mit seinen Verbündeten, den Gülenisten. Man hat das zwar schnell vergessen, doch er war lange mit den Gülenisten verbunden – bis zum Korruptionsskandal vom 17. bis 25. Dezember 2013.

 

Aber seit dem versuchten Militärputsch sind die Gülenisten offensichtlich die Bösen.

Ja, sie sind nun seit dem 15. Juli 2016 der «Feind Nummer 1». Sie werden beseitigt, egal, wo sie sind – so brutal es klingt, man kann es gar nicht anders sagen.

 

Wie ist es dazu gekommen?

Der Hintergrund dieser Feindschaft ist wahrscheinlich wiederum ein Machtkampf. Auch die sogenannten Islamisten haben, wenn sie einmal an der Macht sind, mit Meinungsverschiedenheiten zu kämpfen. Hinzu kommt die persönliche Bereicherung Erdogans: Die Gülenisten veröffentlichten abgehörte Telefongespräche, unter anderem zwischen Erdogan und seinem Sohn. Daraus geht hervor, dass er Millionen Dollars bei sich zuhause hatte, deren Herkunft natürlich nicht erklärbar war. Erdogan wollte verhindern, dass all die krummen Geschäfte ans Licht kamen – dabei wissen die Leute in der Türkei das schon lange. Doch der Präsident nahm den Kampf mit den Gülenisten auf und spannte dafür mit deren ‹natürlichen Feinden› zusammen, den Traditionalisten.

 

Es ist doch gar nicht erwiesen, ob der Putsch tatsächlich aufs Konto der Gülenisten geht.

Ob der Militärputsch ein ‹echter› Putsch war oder ob Erdogan ihn lediglich als Vorwand gebraucht und entsprechend inszeniert hat, ist völlig offen. Sicher ist nur, dass es für Erdogan – aus seiner Sicht zumindest – um einen Überlebenskampf ging: Über ihn wird wohl einiges auskommen, wenn er irgendwann nicht mehr an der Macht ist. Doch solange er der Chef ist, spielt das alles keine Rolle: Wenn etwas nicht legal ist, dann wird es eben legal gemacht.

 

Sie kamen 1996 aus der Türkei in die Schweiz und wurden hier als politischer Flüchtling anerkannt: Weshalb engagieren Sie sich für die Rechte der KurdInnen?

Die Zukunft der Türkei hängt davon ab, dass es Frieden gibt. Werden die KurdInnen jedoch weiterhin ignoriert und unter Druck gesetzt, dann hat das Land keine Zukunft. Aus meiner politischen Weltanschauung heraus gesehen ist das, was mit den KurdInnen geschieht, auch schlicht nicht gerecht: Die Kurd-Innen sind ein eigenes Volk, das seit Jahrhunderten in einem bestimmten Gebiet verankert ist. Es hat Rechte, auch politische Rechte, und das muss man anerkennen. Deshalb habe ich die Mahnwache von letzter Woche mitorganisiert. Aber, wie gesagt: Ich engagiere mich auch aus Eigeninteresse: Wenn es den KurdInnen besser geht, dann geht es auch der Türkei besser. Andernfalls jedoch entwickelt sich die Türkei zu einem Land, in dem ich nicht mehr leben möchte.

 

Am 24. März gab es erneut eine Demo in Zürich: Wer sind eigentlich die Leute, die seit Anfang Jahr immer wieder auf die Strasse gehen?

Es sind grundsätzlich hier lebende KurdInnen sowie TürkInnen. Letztere machen vielleicht 10, 15 Prozent aus; das ist aber bloss eine grobe Schätzung. Entscheidend ist die politische Positionierung; ob jemand Kurdin ist oder Türkin, spielt kaum eine Rolle. Im Alltag ist das sowieso kein Thema: Ich weiss von vielen meiner FreundInnen und Bekannten nicht, ob sie TürkInnen oder KurdInnen sind. Denn alle KurdInnen sprechen sehr gut türkisch – sie wachsen entweder zweisprachig auf wie die RätoromanInnen oder lernen spätestens in der Schule Türkisch.

 

In der NZZ vom 13. März ist aber auch von «fragwürdigen Unterstützern» solcher Demos die Rede, von «linksextremen Gruppierungen».

Die Hauptstossrichtung der Demos ist klar: Es geht um die kurdische Bewegung im Nahen Osten und um die Rechte der KurdInnen. Aber die marxistisch-leninistische Vergangenheit der PKK gibt logischerweise auch einigen Linken hierzulande Hoffnung, und sie solidarisieren sich. Das ist vergleichbar mit früheren Zeiten, als Linke aus der Schweiz engagiert für die Sache der PalästinenserInnen eintraten. Ein Sicherheitsproblem sind die Demos hierzulande aber sicher nicht: Die Kurd-Innen sind vorsichtig. Sie schätzen es sehr, dass sie hier eine Plattform für ihre Ansichten haben und sich frei äussern können. Das würden sie nicht für irgendwelche extremistischen Ränke aufs Spiel setzen. Aber es gibt natürlich viele kleinere Gruppierungen, die man mitlaufen lässt. Das ist genau wie am 1. Mai, wo ebenfalls unterschiedlichste Gruppen inklusive Schwarzer Block mitmarschieren, ohne dass deshalb jemand Angst haben muss.

 

Abgesehen vom Offensichtlichen, dem Protest gegen unhaltbare Zustände: Was sollen die Demos hier in Zürich, weit weg von den Stammlanden der KurdInnen, bringen?

Die Absicht ist grundsätzlich, die Menschen wie auch die Politik in ganz Europa für das Thema zu sensibilisieren – natürlich verbunden mit der Hoffnung, dass sie Druck auf die Türkei machen, ihre aktuelle Politik nicht weiterzuführen. Demonstrationen in Zürich und vielen weiteren Städten in Europa sind eine Möglichkeit, eine durchaus legitime, finde ich. Denn diese Menschen leben hier in der Schweiz, hier in Europa. Sie können nicht zurück in ihre Heimat, bekommen aber mit, was dort zurzeit passiert. Sie sind machtlos und verzweifelt, und sie sehen, dass die Politik in Europa keine Lösungen hat. Ja schlimmer noch: Gerade die Politik Deutschlands ist extrem verlogen, denn im Hintergrund laufen die Geschäfte mit der Türkei weiter, als wäre nichts geschehen. Es werden Waffen verkauft und Waffen geliefert wie eh und je, und man nimmt auch die ‹Gegenleistung› Erdogans, Flüchtlinge von Deutschland fernzuhalten, immer noch gern an.

 

Die türkische Wirtschaft ist bedeutend, die Türkei ist ein guter Kunde, und das Leben geht weiter…

Die Türkei ist wichtig für die europäische Wirtschaft, auch wenn sie gerade überhaupt nicht ‹europäisch› unterwegs ist. Dass Deutschland wie auch andere Länder darauf Rücksicht nehmen, ist verständlich. Dennoch müssen wir uns fragen, was höher zu bewerten ist: Demokratie und Menschenrechte – oder eigene Interessen Erdogans sowie wirtschaftliche Interessen? Zudem funktioniert die Politik doch so, dass sie sich dann bewegt, wenn die Bevölkerung genügend Druck macht. In diesem Sinne sind solche Demonstrationen eine gute Sache. Dennoch ist es, und zwar unabhängig von den Protesten der KurdInnen, wichtig, dass die Politik Haltung zeigt. Auch deshalb haben wir die Mahnwache von letzter Woche auf der Gemüsebrücke organisiert.

 

Müsste man statt der lokalen nicht eher der Schweizer Politik Dampf machen?

Durchaus, denn sie ist sehr vorsichtig unterwegs. Waffenexporte müssten ein Thema sein, aber auch die Isolierung des Landes: Wenn die Türkei merkt, dass sie mit ihrer Haltung alle vor den Kopf stösst, ändert sich hoffentlich etwas. Die Türkei ist von guten Beziehungen abhängig. Es kann nicht sein, dass Politik hinter geschlossenen Türen gemacht wird und der Bevölkerung nur der Gang an die Demo bleibt. Die Schweizer Politik muss aktiver werden, die Situation der KurdInnen gehört auf die Agenda und darf nicht wieder in Vergessenheit geraten.

 

An der Mahnwache in Zürich waren Politiker-Innen von SP, Grünen und AL dabei; die Bürgerlichen glänzten durch Abwesenheit. Im nationalen Parlament aber haben sie die Mehrheit – wie soll die Schweizer Politik die KurdInnen auf die Agenda setzen, wenn das Thema die Bürgerlichen nicht interessiert?

Das ist schwierig zu sagen, doch immerhin gibt es auch in den bürgerlichen Parteien Menschen, die sich für diese Fragen interessieren. Wichtig ist einfach, dass alle, denen mehr Gerechtigkeit für die KurdInnen am Herzen liegt, das machen, was sie können. Ob sie an eine Demo gehen, einen Vor-stoss schreiben oder eine Mahnwache besuchen, ist letzlich nicht entscheidend: Der Einsatz zählt.

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