Körper und Kopf in Bewegung

Wenn Handwerk und Hintersinn einander ergänzen, ist das immer Anlass zur Freude. Die aktuellen «Tanzfaktor»-Kurzstücke sind alle direkt erlebbar, physisch und auch indirekt metaphorisch ein Genuss.

 

Die drei Kapitel von «Pas de Deux» heissen Adagio, Variation und Coda (Schlusssatz) und nicht etwa Godard, wie das Ohr fälschlicherweise vernommen und für ausgeprägt neckisch vieldeutig gehalten hat. Das Enfant terrible der Nouvelle Vague als Rechtfertigung für eine sehr zeitgenössisch verspielte Ballettode oder -adaption würde als selbstgewählter Steilpass ungemein gut passen. Das Genfer Choreographieduo Lisa Laurent und Mattéo Trutat nimmt sich via ikonische Posen der Popkultur und jenen des klassischen Balletts der Gender­thematik an. Und dies in einer selbstironischen Leichtigkeit, dass ein Besuch gerade für die Zürcher Szene einem Heureka-Erlebnis gleichkommen könnte. Der hier seit einer gefühlten Dekade dominierende akademisch-verkopfte Todernst verwandelt sich in «Pas de Deux» in eine sinnliche Verführung mittels klugem Jux. Dieser zeigt sich nicht etwa im konzentriert beherrschten Tanz von Alice Sundara und Hugo Chanel, der allein die Virtuosität im Handwerk demonstriert, sondern in den Nuancierungen. Eine etwas zu verquere Figur, eine etwas zu tuntige Discomusikwahl, eine Bewegungsreduktion, die ohne Stroboskoplicht wirkt, als würden Schallgeschwindigkeit und Stillstand gleichzeitig stattfinden, genügen als Anhaltspunkte für eine Irritation. Diese wiederum schleicht sich von allein als ausreichend gewichtig in die eigene Aufmerksamkeit, dass dort der Hintersinn angetippt und durch die letztlich kreisrunde Choreographie auch zufriedengestellt wird. Ein klein wenig wirkt «Pas de Deux» wie der Prozess des Schockgefrierens von herausragendem Können inklusive einer stupenden Idee, dessen Resultat eines Granulats nur der Zugabe eines Tropfens benötigen wird, um sich auf der Stelle, wenn nicht gar explosionsartig wieder zu wuchtiger Eindringlichkeit zu entfalten. Diesem Kurzstück müsste eine steile Karriere bevorstehen. «Remember me like this» von Alba Castillo mit dem Licht von Lukas Marian versinnbildlicht die Paradefunktion von Tanz, den intuitiv erfassbaren Ausdruck. Die drei hervorragenden TänzerInnen Beth Andrews, Silja Vereide und Kevin Au verhandeln in einem in sich geschlossenen Reigen letztlich nichts weniger als die existenziellen Fragen in einem Menschenleben. Auf die Herstellung von Grazie folgt der Bruch ins Tölpelhafte, ein berauschender Freudentaumel kippt in eine eifersüchtige Furcht vor Ausgrenzung, die Innigkeit der Umarmung durch eine Todesangst nimmt den gesamten Raum bis zuhinterst dermassen in Beschlag, dass der (mit)fühlbare Druck auf den Brustkasten ein schieres Stocken jeder Atmung suggeriert. Hauptsächlich drückt die Choreographie die Sehnsucht nach Leben, nach Erlebnis, nach Emotion aus, die mittels Körperlichkeit gleichsam errungen wie ausgedrückt werden kann. Noch stärker, respektive mehrheitlich gruppendynamisch wirkt «Search» von Lucas del Rio. Das Bühnenquartett Diego de la Rosa, Elena Morena Weber, Nadika Mohn und Toschkin Schalnich ist klar im gesellschaftlichen Halbschatten verortbar. Die Strassenkluft mit Hoodies und Arbeitshosen ergänzt ihre hauptsächliche Blickrichtung überallhin ausser in Richtung Publikum. Die Orientierung am Mainstream steht nicht zur Debatte, die Möglichkeiten einer Alternative sind aber doch so zahlreich vorhanden, dass eine Eindeutigkeit erst durch trial and error des Versuchens herbeigeführt werden kann. Selbstredend sind diese Ausflüge in noch unbekanntes Terrain – körperlich, emotional und in der Konsequenz – in ihrer Heftigkeit, Mutbereitschaft und Intensität von einer grossen Unterschiedlichkeit geprägt. Auch hier gilt: Ein Lebensgefühl auf den Punkt gebracht.

 

«Tanzfaktor 2022», 28.1., Fabriktheater, Zürich. 

 

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