Sozialhilfe – ein 50-Prozent-Job

Seit Jahren macht das Sozialamt Dübendorf mit Missständen von sich reden. Ein neuer externer Untersuchungsbericht zeigt jetzt das volle Ausmass. Simon Muster sprach mit Nicole Hauptlin von der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) über den Fall Dübendorf, über alltägliches Unrecht und über Vorurteile gegenüber Armutsbetroffenen. 

 

Frau Hauptlin, wie überrascht waren Sie über das Ausmass der Missstände beim Sozialdienst Dübendorf, die letzte Woche in einem Untersuchungsbericht bekannt wurden?

Nicole Hauptlin: Die Missstände in Dübendorf sind ja bereits seit Längerem ein Thema, sowohl medial als auch politisch. Ich berate für die UFS immer wieder Personen aus Dübendorf. Der Untersuchungsbericht, der jetzt dem Dübendorfer Gemeinderat vorgelegt wurde, bestätigt meine Vermutung: SozialhilfebezügerInnen weht in Dübendorf ein rauer Wind entgegen, sie wurden zum Teil abwertend behandelt, Beträge falsch abgerechnet und Akten nicht sorgfältig geführt. 

 

Ein rauer Wind klingt fast schon verharmlosend. Bei einigen der beschriebenen Fälle gingen die Verantwortlichen richtiggehend bösartig mit den KlientInnen um …

Das stimmt, wobei ich nicht so weit gehen würde, dem Sozialdienst Dübendorf böse Absichten zu unterstellen. Der Untersuchungsbericht zeigt aber, dass eine Stimmung des Misstrauens gegenüber den Armutsbetroffenen geherrscht hat, was sich natürlich auf die Arbeit auswirkt. 

 

Wie entsteht so eine Stimmung?

Nun, der Vorwurf, dass Armutsbetroffene faul sind, gibt es seit jeher. Wir haben in der Schweiz schon immer zwischen würdigen und unwürdigen Armen unterschieden. Sozialbehörden sind Laienbehörden und es herrscht mancherorts ein schwaches Rechtsbewusstsein auf politischer Ebene. Zudem kommt es auf die Personen an, die auf den Sozialdiensten arbeiten. Das hat auch mit dem eigenen Rollenverständnis zu tun: Eine Studie der Berner Fachhochschule hat untersucht, für welche Studierenden in der Sozialen Arbeit die Sozialhilfe ein attraktiver Beruf ist. Die Studie kommt zum Schluss, dass je mehr sich eine Person als Agentin der sozialen Kontrolle versteht, desto eher bewirbt sie sich für eine Stelle in der Sozialhilfe. Diese Studierenden sehen ihre Rolle in erster Linie da­rin, mit Kontrollaufgaben und klar definierte Leistungskriterien die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Solche Haltungen können sich in einem Team gegenseitig verstärken. Die vertrauensfördernde und unterstützende Sozialhilfe bleibt dabei auf der Strecke.

Zudem sind viele Sozialdienste heillos überlastet und es herrscht grosse Unwissenheit, Sozialhilferecht wird im Studium nur am Rande gelehrt. Natürlich gilt das nicht für alle, ich bin durch meine Arbeit bei der der UFS nur mit jenen Fällen konfrontiert, bei denen auch etwas schiefläuft.

 

Ist Dübendorf ein Sonderfall oder nur die Spitze des Eisbergs?

Das ist eine gute Frage. Dübendorf ist sicher ein Sonderfall, weil die Fälle, die bekannt geworden sind, auf eine gewisse Systematik schliessen lassen. Weil die Sozialhilfe aber bei den Gemeinden und nicht beim Bund angesiedelt ist, fehlt bei den Sozialdiensten ein übergeordnetes Monitoring, sie sind ein schwarzes Loch. Wir wissen also nicht, wie weitverbreitet solche Praktiken wie in Dübendorf in der Schweiz tatsächlich sind. 

Was wir aber wissen ist, dass die Nichtbezugsquote bei der Sozialhilfe sehr hoch ist. Das hängt sicher bei einem Teil der Betroffenen mit einer Angst vor ausländerrechtlichen Konsequenzen zusammen, aber hat auch mit der Art zu tun, wie die Behörden mit SozialhilfebezügerInnen umgehen. Oft werden sie unter Druck gesetzt und es werden Dinge von ihnen erwartet, die sie gar nicht erfüllen können. Dabei wäre es die Aufgabe der Sozialbehörde, auf den Einzelfall einzugehen. Sozialhilfe dreht sich schliesslich nicht nur um Geld. 

 

Sondern?

Eigentlich sind die finanzielle und die persönliche Sozialhilfe einander gleichgestellt. Die Sozialhilfe ist die erste Anlaufstelle für alle Personen in schwierigen Lebenssituationen – unabhängig, ob sie nun Sozialhilfe beziehen oder nicht. Doch für diese persönliche Hilfe fehlen überall die Kapazitäten. Die werden vor allem in der wirtschaftlichen Sozialhilfe eingesetzt, also bei der Auszahlung des Geldes und Kontrolle der KlientInnen.

 

Haben Sie Beispiele dafür, wie SozialhilfebezügerInnen unter Druck gesetzt werden?

Wenn eine Person in einer zu teuren Wohnung lebt, kann der Sozialdienst verlangen, dass sich diese Person auf beispielsweise zehn Wohnungen pro Monat bewirbt. Für eine gesunde Person ohne Kinder und sonstige Verpflichtungen ist das vielleicht kein Problem, aber für andere sind solche Auflagen kaum zu erfüllen, zum Beispiel für jemanden, der psychisch oder körperlich beeinträchtigt ist. Wenn sie diese geforderte Anzahl Bewerbungen nicht erreichen, kürzt der Sozialdienst die Sozialhilfe – es entsteht mehr Druck. Gleichzeitig passieren den Sozialdiensten andauernd Fehler: Immer wieder finden SozialarbeiterInnen Unterlagen nicht und verlangen sie nochmals von KlientInnen. Auch habe ich noch sehr selten ein Klientenkonto gesehen, das korrekt geführt wird. Diese Fehler zu entdecken, liegt in der Verantwortung der KlientInnen.

 

Die SozialhilfebezügerInnen müssen also die Entscheide der Sozialbehörden selber kontrollieren?

Ja. Ich gebe meinen Klient­Innen immer auf den Weg: Sozialhilfe ist ein 50 Prozent-Job. Ihr müsst für alles ein Papier organisieren. Ihr müsstet eigentlich eine Büroausbildung haben und man erwartet von euch, dass ihr alles könnt. So sind SozialhilfebezügerInnen etwa auch für das Verfassen von Rechtsmitteln selbst verantwortlich, nur ganz selten kommt es vor, dass unentgeltliche Rechtshilfe gewährt wird. Wer einen Kugelschreiber halten und lesen kann, soll seinen Rekurs gefälligst selbst schreiben – so der Tenor. Die Entscheide der Sozialdienste sind aber oft so verfasst, dass sie eine Person ohne juristische Ausbildung kaum verstehen kann. Insgesamt lässt sich sagen, dass er Rechtsschutz für SozialhilfebezügerInnen gravierende Mängel aufweist. Das hat unlängst auch eine Studie für das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) gezeigt. 

 

Dafür gibt es aber doch die UFS, oder?

Ja, aber wir können nur etwa die Hälfte der Anfragen beantworten. Ausserdem müssen wir uns grösstenteils über Spenden finanzieren und das ist immer ein Kampf. Aber das müsste eigentlich gar nicht so sein: Wenn der Bund die Verantwortung für die Sozialhilfe übernehmen würde, müsste er auch Beratungsangebote für die KlientInnen mitfinanzieren, wie er das bei den Sozialversicherungen, etwa bei der AHV und Pro Senectute macht. Aber weil die Verantwortung bei den Gemeinden liegt, fliesst auch kein Geld.

 

Dass es in der Sozialhilfe so viele Hürden gibt, ist also auch politisch gewollt …

Ja, die letzten Verschärfungen des Sozialhilferechts haben dazu geführt, dass der Druck auf die SozialhilfebezügerInnen ständig gestiegen ist. Das kann man auch an den Änderungen an den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe nachvollziehen: Die Regeln sind immer strikter geworden, die Ansätze immer weiter gesunken. Heute ist die ordentliche Sozialhilfe für eine Einzelperson um rund 100 Franken zu tief angesetzt. 

Sowohl bürgerliche wie linke Politiker­Innen tun sich schwer mit der Sozialhilfe, mit ihr gewinnt man keine Lorbeeren. Dabei geht eigentlich um überschaubare Beträge: Wenn jede Person in der Schweiz jeden Tag einen Franken in ein Kässeli stecken würde, dann ware die Sozialhilfe bezahlt. Ich bezahle also für die gesamte Sozialhilfe in der Schweiz nur etwas mehr als für die Serafe-Gebühren. 

 

Mit den Verschärfungen in der Sozialhilfe sind auch immer mehr Auflagen und Sanktionen für SozialhilfebezügerInnen eingeführt worden. Gerade letzte Woche hat der Bundesrat bekannt gegeben, dass er für AusländerInnen aus Drittstaaten den Unterstützungsansatz bei der Sozialhilfe kürzen will, um die Sozialhilfequote in dieser Bevölkerungsgruppe zu senken. Wie sinnvoll ist dieser Ansatz? 

Wie bereits erwähnt ist die ordentliche Sozialhilfe bereits heute zu tief angesetzt. Wenn diese jetzt noch weiter sinkt, erschwert das auch die Integration: Damit man am alltäglichen Leben teilnehmen kann, braucht es nun mal Geld. Wenn SozialhilfebezügerInnen aber den ganzen Tag damit beschäftigt sind, mit dem wenigen Geld das alltägliche Leben zu organisieren, dann fehlt ihnen die Energie und Motivation, um Fortschritte zu erzielen. Und das erschwert wiederum die Ablösung aus der Sozialhilfe. Ein Teufelskreis. 

 

Es scheint so, als politisiere man oft an der Lebensrealität von SozialhilfebezügerInnen vorbei …

Ja, definitiv. Das öffentliche Bild, wie SozialhilfebezügerInnen leben und ihr Leben bestreiten, ist schlicht falsch. Viele Menschen aus der Mittelschicht haben keine Berührungspunkte mit der Sozialhilfe, deswegen denken sie auch in Stereotypen. Ich habe bei meiner Arbeit noch nie eine Person getroffen, die sich auf der Sozialhilfe ausruht. Wir begegnen aber immer öfter Menschen, die unter dem Druck der Sozialhilfe leiden und psychiatrische Hilfe benötigen.

 

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