«Ich bin beeindruckt, wie reflektiert die jungen Frauen sind»

«Genauso, nur anders» heisst das Buch von Andrea Arežina und Salome Müller. Die beiden Autorinnen haben 19 Mädchen und junge Frauen getroffen und ihnen beim Erwachsenwerden zugehört. Im Gespräch mit Simon Jacoby erzählt Andrea Arežina über das Tabuthema weibliche Sexualität, Belästigungen und das neue Selbstvertrauen von jungen Frauen.

Zum Einstieg eine einfache Frage: Wären Sie heutzutage gerne ein Teenie?

Andrea Arežina: Nein, ich wäre nicht gerne Teenie heute, weil ich wüsste, was alles noch auf mich zukommt. Ich fand es als Teenagerin sehr anstrengend. Die Zeit zwischen 20 und 30 hingegen habe ich sehr chic in Erinnerung.

Was ist denn so schlimm als Teenager?

Es ist eine Umbruchphase, nicht mehr Mädchen, aber auch noch nicht erwachsen. Der Körper nimmt plötzlich irgendwelche Formen an. Mit diesen Veränderungen mitzukommen, fand ich nicht einfach. Ich begann mich durch die Augen der anderen zu sehen, verglich mich. Das Äussere spielt eine immer grössere Rolle. Dazu kommt die Frage: Was will ich im Leben eigentlich machen?

Ihr habt mit 19 Mädchen und jungen Frauen gesprochen – haben Sie einen Unterschied zu unserer Generation Y festgestellt?

Ja und nein. Ich war beeindruckt, wie reflektiert die jungen Frauen sind, wie sie die Worte haben für ihre Gefühle, für die Ungerechtigkeit hier draussen – Beispiel Catcalling, um mal einen Begriff in die Runde zu werfen. Dieses Bewusstsein hat sich geändert, die sozialen Medien haben auch geholfen. Die jungen Frauen vernetzen sich und tauschen sich aus. Sie kommen an neue Inhalte. Es hat sich schon einiges verändert.

Und was ist ähnlich geblieben?

Zum Beispiel, wenn die Periode kommt. Sie gilt immer noch als eklig und unhygienisch. Ich glaube, hier besteht ein Unterschied, wie Frauen und wie Männer darauf schauen. Ein Spoiler aus dem Buch: Eine junge Frau hat uns erzählt, wie eine Klassenkameradin während der Schulstunde ihre Tage bekam.

Wie das ist, färbt sich der Stuhl rot. Ein Mitschüler sei völlig entgeistert aus dem Schulzimmer gerannt und schrie in den Gang, dass jemand verblute. So ist es eben auch – es herrscht sehr viel Unwissen.

Man müsste Kinder und Jugendliche also in der Schule früher aufklären?

Unbedingt, ja. Wer eine Tochter hat, wird mit ihr früher oder später über die Periode sprechen. Aber wer einen Sohn hat, sollte das auch. Mein Eindruck ist, dass das noch nicht so weit verbreitet ist. Aber ich hoffe, ich täusche mich.

Soweit ich mich erinnere, hatten wir in der Schule etwa eine Stunde Aufklärungsunterricht in der fünften Klasse. Ehrlich gesagt weiss ich nicht mehr, was dort passiert ist. Jemand in der Redaktion hat erzählt, sie hätten einer Banane ein Kondom anziehen müssen und das sei es dann gewesen. Wie war das bei Ihnen?

Ich bin fast enttäuscht, dass Sie die Anekdote mit der Banane und dem Kondom vorweggenommen haben. Das war auch bei mir so. Ich erinnere mich an einen Montagnachmittag, vier Stunden Bio-Unterricht bei unserem Klassenlehrer, der kurz vor der Pensionierung stand. Sein Schulstoff war so alt, dass wir vom Hellraumprojektor nichts mehr lesen konnten. Heute ist das offenbar sehr viel besser.

Warum hattet ihr trotzdem das Gefühl, ihr müsstet nochmals ein Buch zu diesem Thema schreiben?

Kürzlich hat mein Mitbewohner das Buch, das Salome und ich geschrieben haben, durchgeblättert und war erstaunt, als er von einer 13-Jährigen las, die bereits sexuell belästigt wurde. Es ist heavy. Wenn man es nicht mitbekommt oder nicht selber erlebt, hat man das Gefühl, es gäbe das alles gar nicht und die Gleichstellung sei erreicht. Auf dem Papier haben wir schöne Worte, aber in der Realität liegt noch ein weiter Weg vor uns.

In einem Interview habt ihr gesagt, dass ihr euch wünscht, dass auch Männer das Buch lesen. Wie bringt man Leute dazu, sich mit einem Thema zu befassen, das sie unter Umständen gar nicht betrifft?

Das finde ich eine sehr wichtige Frage. Wenn ich es wüsste, würde ich es machen! Etwas in meinem Freundeskreis stimmt mich zuversichtlich: Wer eine Tochter bekommt, hat grosses Interesse. Das finde ich schön. Mein Vater hat sich nicht so dafür interessiert, wie es mir als junge Frau geht. Aber wie bringt man Töchter-lose Männer dazu? Ich wünsche mir, dass sich immer mehr Leute für junge Frauen interessieren. Eine kürzlich publizierte Studie vom Bundesamt für Gesundheit zeigt, dass es den jungen Menschen heute nicht gut geht, vor allem bei den jungen Frauen ist es schlimmer geworden. Sie sind gestresst wegen der Schule, der Arbeit. Sie leiden an Traurigkeit, Ängstlichkeit, Nervosität. 

Decken sich die Resultate der Studie mit euren Erfahrungen?

Ja. Es gibt aber auch Lichtblicke. Die Frauen sind sehr reflektiert und klug. Sie sind aufgeklärter. Salome und ich waren beeindruckt, wie offen sie von sich erzählt haben. 

Haben Sie eine berührende Anekdote aus den Gesprächen mit den jungen Frauen?

Ja, da gibt es ein paar Dinge, die mir geblieben sind. Eine junge Frau hat erzählt, dass sie, wenn sie in den Ausgang geht, immer eine grosse Tasche mit einem Kapuzenpullover dabei hat. Diesen kann sie anziehen, wenn sie nachts nachhause geht, damit sie nicht als Frau erkannt wird und sich geschützt und geborgen fühlt. Ich meine, wir wohnen in der Stadt Zürich und es ist 2023 und die junge Frau fühlt sich erst sicher, wenn sie ihren Kapuzenpulli von zu Hause anziehen kann. Das hat mich schon sehr berührt und auch schockiert.

Haben Sie noch eine andere Anekdote?

Bei einer jungen Frau haben die Jungs mitbekommen, dass die junge Frau mittlerweile ihre Tage bekommen hat. Da kam der Spruch, den viele Frauen sicher kennen: «Ah, du hast wieder deine Tage.» Darauf hat sie geantwortet: «Hey, nein. Weisst du, was das Problem ist? Du gehst mir einfach mega auf den Sack.» Eine total gute Antwort.

Ein anderes Thema: Warum ist Sexualität, vor allem die weibliche, noch immer ein Tabuthema?

Weil man nicht darüber spricht und weil man falsche Vorstellungen davon hat. Eine junge Frau hatte beim Gespräch das Buch «Unten rum» von Margarita Stokowski dabei, da war sie 19 Jahre alt und hat gefragt, «wo war das Buch, als ich 15 war?» Sie hat erzählt, dass, wenn sie mit ihren Freundinnen über dieses sogenannte erste Mal spricht, es häufig nur darum gehe, was man machen muss, dass es für den Mann schön ist und man sich selber nicht dabei blamiert. Auf der Strecke bleibt die Frage: Wie ist es für die Frauen schön?

Das heisst also, um diese Unsicherheiten und patriarchalen Denkmuster zu durchbrechen, braucht es Bücher, Infos, Gespräche… Richtet sich euer Buch also in erster Linie an junge Frauen, um ihnen beim Erwachsenwerden zu helfen?

Unser Buch ist für alle! Es ist für Väter, Grossväter, Onkel, Göttis, aber auch für ältere Frauen. Eine Freundin hat sich gefragt, wieso sie das Buch lesen soll. Sie wisse ja, wie es ist. Sie fand es dann sehr schön, weil sie ihre eigene Jugend nochmals durchleben konnte. Und ja, vielleicht helfen wir den jungen Frauen, indem wir zeigen können: Hey, du bist voll okay und du gehörst auch dazu. Das Schöne an unserem Buch finde ich ist, dass die jungen Frauen das Wort haben und jungen Leserinnen auf Augenhöhe begegnen.

Aktuell läuft die jährliche Kampagne 16 Tage gegen Gewalt an Frauen. Inwiefern ist euer Buch auch ein Beitrag zu dieser Debatte?

Wir möchten einen Unterschied machen im Leben dieser jungen Frauen. Salome und ich hätten uns damals, als wir jung waren, eine ältere Schwester oder sonst jemanden gewünscht, der voraus gegangen wäre, uns gesagt hätte, dass alles okay ist mit uns, dass es wieder vorbei geht, dass wir nicht komisch sind. Das ist der Wunsch mit diesem Buch.

Aber gegen sexualisierte Gewalt nützt dies nichts.

Nein. Für die jungen Frauen hat es zwar hinten im Buch eine Liste mit Beratungsstellen. Wichtig ist, dass auch Männer dieses Buch lesen. Unser Buch ist ein journalistisches Aufklärungsbuch und nicht die alleinige Rettung der Welt.

Zum Schluss: Was stimmt dich trotz allem optimistisch?

Da ist zum Beispiel der feministische Streik vom Jahr 2019, als so viele Frauen auf der Strasse demonstriert haben – und seither jedes Jahr wieder tun. Oder auch all die jungen Frauen, die einfach keinen Bock mehr haben, sich alles gefallen zu lassen. Das finde ich mega schön. Und ich finde es auch schön, dass das Thema auf viel mehr Interesse stösst als noch vor zehn Jahren. Aber wir sollten uns auch nichts vormachen, wir sind nämlich noch nirgends. Wir müssen weiter lernen und dem eigenen Sexismus auf den Grund gehen. Ich wünsche mir, dass wir mutiger werden, darüber zu reden, Fehler zu machen und aus diesen zu lernen.

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