«Hoffnung ist das Einzige, was uns am Leben hält»

Ein Besuch in Gaza, der nachdenklich macht.

Auf dem Flug von Zürich nach Tel Aviv fragten wir uns, was uns in Gaza wohl erwarten würde, da die neue rechtsnationalistische israelische Regierung die Konflikte im Westjordanland und im Gazastreifen anheizt. Dies überlegten sich die Mitglieder der Delegation des Vereins Kampagne Olivenöl aus Palästina (www.olivenoel-palaestina.ch). Die Kampagne importiert Olivenöl, für das den Bauern ein fairer Preis bezahlt wird. Mit dem Gewinn aus dem Verkauf werden gemeinnützige Projekte in Gaza und im Westjordanland unterstützt. Neben der Kampagne gibt es weitere schweizerische Organisationen, die Projekte in Palästina unterstützen, beispielsweise das HEKS, der CFD und Medico International.

Dramatische Situation im Gazastreifen

Im Gazastreifen, der 1967 von Israel besetzt wurde, leben ca. 2,2 Millionen Menschen. Das israelische Militär zog sich 2005 zurück. Mit einer Fläche von nur 360 Quadratkilometern zählt Gaza zu den am dichtesten bevölkerten Gebieten der Erde. Gaza ist eingeschlossen durch Mauern und Zäune; es gibt lediglich zwei Grenzübertritte, der eine nach Israel, der andere nach Ägypten. Ausreisegenehmigungen werden von Israel nur in seltenen Fällen bewilligt. Viele bezeichnen Gaza als grösstes «Freiluftgefängnis». Die wirtschaftlichen Probleme sind enorm: eine Arbeitslosigkeit je nach Altersgruppe von 40 bis 60 Prozent. Die Folge davon ist eine weitreichende Verarmung der Bevölkerung.

Zirka 70 Prozent der Bevölkerung lebt in Armut, und 80 Prozent der Familien sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Trotzdem gibt es auch Bewohnerinnen und Bewohner, die sagen, dass sie lieber in Gaza als im Westjordanland leben, da sie immerhin innerhalb des Streifens mit keinen israelischen Soldaten, Siedlern oder Checkpoints konfrontiert sind.

Nadelstiche und tödliche Raketen

Die Einreise nach Gaza gelang uns ohne Schwierigkeiten. In der Nacht zuvor wurde zwar ein Fabrikgebäude von israelischen Raketen zerstört. Glücklicherweise wurden aber keine Menschen verletzt oder getötet. Eine unserer Kontaktpersonen erzählte: «Die Raketen der militanten islamistischen Gruppen, die nach Israel abgeschossen werden, sind Nadelstiche im Vergleich zu den israelischen Bombardierungen. Die israelische Bevölkerung wird zwar verunsichert. Aber die Menschen dort können sich immerhin in Schutzräumen in Sicherheit bringen. Dagegen haben wir in Gaza keine sichere Zuflucht. Und die israelischen Bomben sind tödlich.» So wurden beispielsweise im Gaza-Konflikt im Juli 2014 nach Angaben der UNO 1843 palästinensische Zivilisten und 67 Israelis getötet.

Interessante Begegnungen

In Gaza Stadt trafen wir uns mit Dr. Aed Yaghi, dem zuständigen Direktor der Palestinian Medical Relief Society (PMRS), und mit Jamal Al Rozzi, Direktor der National Society for Rehabilitation (NSR), der uns in den folgenden Tagen begleitete und fachkundig informierte. Die PMRS (www.pmrs.ps) ist eine der grössten Basisorganisationen im Gesundheitsbereich, die 1979 von palästinensischen Ärzten und Fachleuten des Gesundheitswesens gegründet wurde, um die durch die israelische Militärbesatzung unzureichende Gesundheitsorganisation zu verbessern. Die NSR wurde 1990 gegründet und hat die Zielsetzung, Verletzte und Menschen mit einer Behinderung in den Alltag einzugliedern. Sie bietet verschiedene Dienstleistungen an wie Sozialarbeit, Physiotherapie, Ergotherapie, Hilfsmittel. Sie ist in verschiedenen ambulanten Beratungsstellen und Kliniken organisiert.

In einem regen Austausch mit unseren Kontaktpersonen erhielten wir wertvolle Informationen. So wird das Eingeschlossensein in Gaza verständlicherweise als sehr belastend empfunden. Israel hat momentan die Grenze für ca. 13 000 Arbeiter geöffnet, die in Israel arbeiten können. Sie verdienen dort ca. zehnmal mehr als in Gaza; allerdings weniger als israelische Arbeiter. Dennoch ist diese Möglichkeit eine grosse ökonomische Hilfe. 

Kinder ohne Zukunft? 

Auf unseren Wunsch machten wir eine Besichtigungstour durch Gaza. Es besteht ein reger Autoverkehr auf den Strassen, sodass man sich als Fussgänger nicht wohl fühlt. Neben den vielen ärmlichen Häusern und Siedlungen fuhren wir auch an schönen Wohnhäusern, gepflegten Restaurants und einigen attraktiven Hotels vorbei. Es ist hier wie überall, es existieren verschiedene Schichten, unglaublich viel Armut; aber es gibt auch Menschen, die in guten Verhältnissen leben.

In Gaza City hat es eine kleine hübsche Altstadt. Ausländische Besucherinnen und Besucher sind selten, sodass wir sofort auffielen. Kinder suchten Kontakt mit uns; einige sprechen sogar ein paar Brocken Englisch. Nach einer anfänglichen Scheuheit strahlten sie. Sie liessen sich gerne fotografieren. Diese Begegnungen machten uns nachdenklich. Wie sieht wohl die Zukunft dieser jetzt so fröhlich wirkenden Kinder aus? Wie gehen sie mit all den traumatischen Erlebnissen um? 

Studentinnen mit düsteren Berufsperspektiven

Durch Vermittlung eines Professors, der in Deutschland promoviert hatte, erhielten wir die Gelegenheit, die Islamic University zu besuchen und uns mit einer Gruppe Studentinnen und Studenten auszutauschen. Die Islamic University ist eine der vier Universitäten in Gaza, an der 10 000 Frauen und 7000 Männer studieren. Für schweizerische Verhältnisse ist die Universitätsdichte im Westjordanland und Gaza enorm. Ca. 70 Prozent der jungen Palästinenserinnen und Palästinenser haben einen Hochschulabschluss (meistens Bachelorstufe). Die Berufsperspektiven sind aber düster. Aus unserer Sicht wünscht man Palästina (wie auch vielen anderen Ländern) ein duales Bildungssystem, das wohl ein grösseres ökonomisches Potenzial für die Betroffenen hätte. Der Professor führte uns zuerst durch die Universität und zeigte mit Stolz einen Raum, wo Embleme von verschiedensten europäischen und aussereuropäischen Universitäten aufgehängt sind, mit denen diese Universität Kontakt pflegt. Auch die Schweiz ist vertreten mit der Université de Neuchâtel. Die Klassen werden geschlechtergetrennt unterrichtet. Wenn man durch den Campus spaziert, sieht man fast ausschliesslich Gruppen entweder von Frauen oder Männern; kaum jemals mischen sich die Geschlechter. In den Universitäten im Westjordanland sind die Klassen gemischt.

Wir trafen uns mit einigen Studentinnen und Studenten. Beeindruckend sind die sehr guten Englischkenntnisse dieser Frauen und Männer; einige sprechen akzentfrei. Niemand von ihnen hat jemals Gaza verlassen können, um einen Aufenthalt in einem englischsprachigen Land zu machen. Die jungen Frauen und Männer machten einen äusserst interessierten und motivierten Eindruck. Eindrücklich sind ihre Aspirationen und Träume. Sie wollen mit ihrer Ausbildung einen Beruf ausüben, um für die Gesellschaft einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Verschiedene möchten im Ausland weiterstudieren, aber wissen bereits jetzt, dass das fast unmöglich ist, ausser man erhält ein Stipendium einer ausländischen Universität. Sie sind hoffnungsvoll, aber sind sich auch ihrer schwierigen Situationen bewusst. So die eine junge Frau: «Das tägliche Leben ist schwierig. Jeden Tag kann etwas passieren. Wir wissen nicht, wann wir wieder von Israel angegriffen werden. Ich habe auch Familienmitglieder, die so getötet worden sind.» Auch politisch äussert sich eine Studentin: «Wir haben die Hamas, und sie verteidigt uns.» Wir waren beeindruckt von diesen jungen Menschen; gleichzeitig stimmte uns ihre Realität nachdenklich.

Wichtige Unterstützung

Die Tour mit dem Direktor der NSR, Jamal Al Rozzi, gab uns Einblick in eine andere Realität. Hier ging es um Menschen mit einer Behinderung, denen geholfen wird. Die Kampagne leistet einen Beitrag von 35 000 Franken, mit dem viele Familien, die in Armut leben, Hilfsmittel für behinderte Mitglieder erhalten; zudem werden damit nötige Anpassungen an den Wohnungen ermöglicht.

Wir besuchten sieben Familien. Zwei Beispiele: Eine junge Mutter mit zwei Knaben, die im 7. Stock eines Hauses ohne Lift wohnt. Der zehnjährige Karem benötigt einen Rollstuhl. Desweitern wurden bauliche Anpassungen im Badezimmer gemacht sowie eine Batterie installiert, welche die Stromversorgung im Notfall sicherstellt, da in Gaza der Strom immer wieder ausfällt. Karem muss aufgrund seiner Behinderung und der Wohnsituation zu Hause unterrichtet werden. Wir haben den uns begleitenden Sozialarbeiter gefragt, ob nicht eine optimalere Wohnsituation organisiert werden könnte. Die Antwort war für uns nicht nachvollziehbar. «Es handelt sich um eine heikle Familiensituation, die eine solche Veränderung nicht einfach macht.» Es scheint, dass es hier auch um komplexe soziale und kulturelle Aspekte geht, die für Aussenstehende nicht unmittelbar nachvollziehbar sind. In einer anderen Familie wurde in der Wohnung und im Treppenhaus Geländer montiert, an dem sich der siebenjährige gehbehinderte Fadi festhalten kann, damit er auch nach draussen gehen kann. 

Wir besichtigten zudem einige ambulante Dienste des NSR, wo Physiotherapie, Ergotherapie und Beratung durch qualifiziertes Personal angeboten werden. Mit knappen Mitteln wird Erstaunliches geleistet.

Ohne Hoffnung kein Leben

Auf dem Rückflug nach Zürich denke ich an die jungen Menschen, die ich getroffen habe, und an deren Träume, die wohl an der politischen Realität und an der konservativen Gesellschaft scheitern werden. Dabei erinnere ich mich an die Aussage eines jungen Menschen: «Ohne Hoffnung wird unser Leben unmöglich. Hoffnung ist das Einzige, was uns am Leben hält».

* Ueli Schwarzmann war von 1995 – 2011 Direktor der Alterszentren der Stadt Zürich. Nach seiner Pensionierung leistete er einen Einsatz als Menschenrechtsbeobachter des Weltkirchenrates im Westjordanland. Kürzlich war er in Gaza. Im Artikel gibt er seine persönliche Ansicht wieder.

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