«Wenn der Faschismus vor Israels Türe steht, kann sich vielleicht etwas verändern»
Ein Gespräch mit Edo Konrad und Amjad Iraqi vom israelischen Online-Magazin +972.mag, geführt von Shelley Berlowitz und Sibylle Elam.
Im letzten halben Jahr sind Hunderttausende jüdischer Israelis auf die Strasse gegangen, um gegen die sogenannte «Justizreform» der neuen rechtsextremen Regierung zu protestieren. Geht es bei diesen Protesten ausschliesslich um den Schutz der Demokratie für Israels jüdische Bürger:innen? Oder können sie zu einer umfassenderen Auseinandersetzung mit Israels Politik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung führen?
Edo Konrad: Die Demonstrant:innen sehen diese Justizreform zu Recht als ein Versuch der Ultrarechten und der religiösen Fundamentalisten, sich die Macht zu sichern, als einen Angriff auf die liberale Rechtsordnung. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass der Regierung ihr Coup gelingt, und es ist den Protestierenden zu verdanken, dass sie es bisher geschafft haben, die Kernanliegen des Justizumsturzes zu verhindern. Die Demonstrierenden wollen die Demokratie, die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltentrennung bewahren, aber die meisten sehen nicht, dass Demokratie auch mit der israelischen Besetzungs- und Apartheidspolitik zusammenhängt. Diese Regierung hat klar gesagt, dass sie die jüdische Vorherrschaft auf dem ganzen Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer will, die Siedlungen ausbauen, die Westbank annektieren.
Amjad Iraqi: Die meisten Protestierenden sind auch blind für den Zusammenhang zwischen der Justizreform und der Lage der palästinensischen Bevölkerung innerhalb Israels, welche etwa zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung stellt. In den frühen Neunzigerjahren gab es eine konstitutionelle Revolution mit der Verabschiedung von neuen Grundgesetzen. Sie ermöglichte es auch den Palästinenser:innen beidseits der grünen Linie [d.h. sowohl innerhalb der Grenzen Israels bis 1967 wie in den besetzten Gebieten] an den Obersten Gerichtshof zu gelangen. Und von diesem Recht wurde gut organisiert Gebrauch gemacht, in der Hoffnung auf Gleichberechtigung als Bürger:innen. Tatsächlich waren diese Klagen beim Obersten Gericht nicht sehr erfolgreich – mehr als neunzig Prozent davon wurden abgelehnt, dazu gibt es eine statistische Untersuchung. Aber für die Ultrarechte genügte dies, um darin eine Bedrohung zu sehen, dass sich damit die jüdische Identität des Staates verändern könnte.
Weshalb schliessen sich die Palästinenser:innen denn nicht den Protesten mit ihren eigenen Anliegen an?
A. I.: Der wichtigste Symbolträger dieser Proteste ist die israelische Fahne, der jüdische Davidstern, der die jüdischen Israelis anspricht, aber nicht uns. Denn diese Fahne ist kein Symbol für Frieden und Befreiung, sondern die Fahne derjenigen, die unser Land genommen haben. Über diese Fragen wollen die Israelis nicht sprechen, auch nicht über unsere Diskriminierungen.
Ihr sagt, diese Proteste haben Mängel, weil sie nicht die fundamentalen Fragen zur Demokratie ansprechen. Heisst dies für euch, sie bringen nichts?
E. K.: Alle Massenproteste haben Potenzial. Sie bedeuten, dass man der Politik nicht einfach alles überlässt. Andererseits verstehe ich die palästinensische Bevölkerung, welche sagt, das ist nichts für uns, es ist eine Diskussion unter Zionist:innen, welche Art von Regierung sie vertreten soll: eine ultrarechte, die Palästinenser:innen unterdrückt, oder eine «gemässigte», die Palästinenser:innen ebenfalls unterdrückt. Dennoch haben diese Hunderttausende, welche wöchentlich auf die Strasse gehen, auch die Möglichkeit, etwas zu verändern. Bei den Protesten in Jerusalem, in Haifa, in Tel
Aviv gibt es immer auch einen «Anti-Besatzungs-Block». Diese Leute kommen mit palästinensischen Fahnen, die meisten sind jüdische Israelis, sie werden manchmal angegriffen, geschlagen, verhaftet. Die Leute vom Anti-Besatzungs-Block leisten eine sehr wichtige Arbeit. In Tel Aviv zum Beispiel führt der Weg zur Bühne, wo all die grossen Generäle und Politiker sprechen, an diesem Block vorbei. Das heisst man kommt nicht darum herum, die palästinensischen Fahnen zu sehen und Slogans für Gleichheit und gegen Apartheid.
Wie kommt es, dass dieser Oberste Gerichtshof ein so gutes Renommee hat, auch ausserhalb Israels?
E. K.: Das Oberste Gericht legitimiert Israel international. Israel sagt, wir haben einen Obersten Gerichtshof, an den auch die Palästinenser:innen gelangen können. Zum Beispiel wenn jemand Landbesitz hat in der Westbank, und das Land wird ihm genommen, kann er vor dem Obersten Gericht klagen – auch wenn ihm das in den allermeisten Fällen nichts hilft. Es dauert Jahre, bis ein Entscheid gefällt wird, aber Israel kann behaupten, bei uns geht alles mit rechten Dingen zu, bei uns können auch Palästinenser:innen gegen den Staat klagen. All dies hat den Zweck, ein demokratisches Image für einen Staat zu bewahren, der auch ein Apartheid-Staat ist. Wenn das Oberste Gericht entmachtet wird und Israel kein unabhängiges Justizsystem hat, dann können unsere Soldaten, Offiziere, Generäle vor dem Internationalen Haager Gerichtshof angeklagt werden.
Ihr seid beide israelische Staatsbürger. Welche rechtlichen Unterschiede bestehen zwischen euch?
A. I.: Ein palästinensischer Flüchtling, dessen Grosseltern aus Jaffa oder Haifa stammen, hat kein Recht, zurückzukommen. Ein jüdischer Mensch ausserhalb Israels kann sich aber jederzeit in Israel niederlassen und die israelische Staatsbürgerschaft annehmen, aufgrund des sogenannten Rückkehrgesetzes. Das Recht auf Rückkehr der Jüdinnen und Juden ist nach 2000 Jahren nicht erloschen, aber dasjenige der Palästinenser:innen bereits nach einigen Dekaden. Innerhalb Israels wird das meiste Land vom Jüdischen Nationalfonds verwaltet, der es nur Juden und Jüdinnen verkaufen oder vermieten darf. Nur zur Erinnerung: 93 Prozent des israelischen Bodens ist in Staatsbesitz. Und die Gesetze sind so angelegt, dass Nichtjüd:innen kein Land kaufen können. Oder das Gesetz zu Familienzusammenführungen: Wenn Edo jemanden von ausserhalb Israels heiraten will, kann er sie hierherholen. Wenn ich jemanden aus der Westbank oder aus Gaza heiraten möchte, auch wenn diese Person absolut kein Sicherheitsrisiko darstellt, ist mir dies verwehrt.
Es ist für palästinensische Staatsbürger:innen also schwieriger, Land zu erwerben. Wir hören immer wieder, dass palästinensische Städte und Ortschaften zu dicht besiedelt sind, weil sie sich nicht ausdehnen können.
E. K.: Es gibt eine palästinensische Mittelschicht, welche sich nach mehr Wohnraum umschaut. Bauen können sie oft nur illegal, solche neuen Häuser werden oft von den Behörden wieder zerstört. Also entschliessen sie sich, sich ausserhalb ihres bisherigen Wohnorts etwas zu suchen, auch in jüdischer Nachbarschaft. Palästinenser:innen können endlos Geschichten erzählen, wie sie sich um eine Wohnung bemühen, und es heisst, an euch vermieten wir nicht. Solche Erfahrungen mache ich als jüdischer Israeli nicht.
A. I.: Es gibt eine ganze Anzahl von Gesetzen, die sicherstellen sollen, dass die jüdische Bevölkerung Priorität beim Landbesitz erhält. Land, welches die Flüchtlinge 1948/49 zurückliessen, wurde vom Staat konfisziert, der es dann den jüdischen Israelis zur Verfügung stellte. Das wurde vor allem in den frühen Jahren des Staates so praktiziert. Und es gibt ein neueres Gesetz, das es kleineren Siedlungen ermöglicht, sogenannte Zulassungskomitees zu bilden, welche den Zuzug von Leuten, die ihnen aus «kulturellen» oder «religiösen» Gründen nicht passen, verwehren kann. Und es ist klar, gegen wen sich dieses Gesetz wendet, auch wenn es neutral formuliert ist.
Seht ihr die Möglichkeit, dass die jetzige Regierungskoalition auseinanderbricht?
E. K.: Es gab bereits mehrere grosse Krisen – als Ministerpräsident Netanjahu den Verteidigungsminister Yoav Gallant entlassen wollte oder bei der Verabschiedung des Budgets –, doch die Regierung konnte sich immer retten. Unsicher ist, was für Folgen die Gewalttätigkeiten und Pogrome haben werden, die wir jetzt in den besetzten Gebieten erleben. Werden sie dazu führen, dass der Fokus der Protestbewegung sich auf die Besatzung richtet? Israelis sind bereit, über die Symp-tome zu sprechen, aber nicht über deren Ursache. Die Gewalt, die rechtsradikale Regierung – das sind alles Symptome für die seit 56 Jahren andauernde Besatzung und für einen Staat jüdischer Vorherrschaft, in welchem die jüdische Bevölkerung mehr Macht und Privilegien hat als die palästinensische.
A. I.: Ich möchte ganz klar sagen, dass es sich um jüdische Vorherrschaft in Israel/Palästina handelt, das hat gar nichts mit antisemitischen Vorstellungen einer jüdischen Konspiration zu tun. Diese Aussage kann nur im israelisch-palästinensischen Kontext gemacht werden. Es ist mir sehr wichtig, dies zu betonen, weil dieser Begriff «jüdische Vorherrschaft» auch von Antisemit:innen missbraucht werden kann. Aber es geht darum, dass die Mehrheit der israelischen Bevölkerung einsieht, dass eine hier bereits ansässige Bevölkerung von Leuten vertrieben wurde, die vorher nicht hier lebten.
Kann man sagen, dass der Fall dieser Regierung noch lange nicht bedeuten würde, dass sich in diesen Fragen etwas ändert?
E. K.: Die vorherige Regierung nannte sich eine Regierung des Wandels. Sie war es, die mit den täglichen grossen Razzien in der Westbank begann, bei welchen Palästinenser:innen verhaftet und auch getötet wurden. Das war die Regierung, welche die Siedlungen vergrösserte, welche stolz darauf war, dass sie mehr palästinensische Häuser zerstörte als unter der vorangegangenen Regierung unter Netanjahu, welche mehrere Menschenrechtsorganisationen für illegal erklärte, welche den Weg für das, was wir heute sehen, in vielerlei Hinsicht frei gemacht haben.
Besteht die Chance, dass sich eine breite Anti-Besatzungs-Allianz bildet?
E. K.: Ich denke, dass die sehr kleine radikale Linke jetzt daran ist, eine solche Strategie aufzubauen. Aber auch sie wird die jüdische Vorherrschaft nicht beenden können. Dazu braucht es die Palästinenser:innen und Unterstützung von aussen, von anderen Staaten. Die liberale israelische Bevölkerung muss begreifen, dass der Preis für die jüdische Vorherrschaft zu hoch ist. Bisher konnte sie in dem Gefühl leben, das sie das alles nicht direkt betrifft. Aber wenn der Faschismus vor der Türe des liberalen Israels steht, dann kann sich vielleicht etwas verändern.
A. I.: Ich denke, dass dieser Kampf von den Palästinenser:innen angeführt werden muss. Aber die palästinensische Gesellschaft ist so fragmentiert, dass nicht mehr klar ist, wohin der Kampf gehen muss. Und der israelische Staat versucht alles, um die palästinensische Gesellschaft noch mehr zu spalten. Die radikale Linke kann diesen Kampf nicht alleine führen.