Hoch oben und ganz am Rand

Wieder gesund werden – oder zwischendurch kurz den weiten Ausblick geniessen: Für beides ist die klassische Zürcher Höhenklinik ob Wald der richtige Ort. Zudem hat sie eine gesundheitspolitisch interessante Geschichte. Einige der zweihundertsechsundfünfzig zu diesem Ziel führenden Wege wären mit erholsamen Wasserwanderungen zu verbinden.

Zuerst aber ein Tipp, wie der Genuss ohne Hintergrundwissen und langen Anmarsch zu haben ist: Stündlich fährt ein Postauto von Wald Bahnhof nach Wald RehaZentrum retour, und aus der Cafeteria lassen sich feine Sachen auf die Aussichtsterrasse holen. Dank der Kombination mit der Klinikkantine werden zudem vielseitige und sehr preiswerte Mittag- und Abendessen angeboten. Nette, hilfsbereite Leute rundum. Wenn dann unten noch Nebel liegt oder ein Sonnenuntergang den Panoramablick vom Alpenkranz bis zum Zürichsee verzaubert, wird der kleine Ausflug zur reinen Freude.

Leben mit Gesundheitspolitik

Interessierteren sei das Buch über den «Zauberberg in Wald» empfohlen. Otto Brändli legt es zum 125-Jahr-Jubiläum vor. Schwerpunkt ist jedoch die bemerkenswert lange Phase, in der er dort Chefarzt war. Gut drei Jahrzehnte! Als er die Funktion im Alter von 33 Jahren übernahm, erfolgte der Einstieg ziemlich zackig. Er kannte die damalige Lungenklinik zwar von Besuchen bei seinem in den frühen 60ern an Tuberkulose erkrankten Vater, aber vor der Wahl zum neuen Leiter war er nie mehr dort. In nur gerade zwei gemeinsamen Tagen führte ihn der Vorgänger am 30./31. Dezember 1976 in die Aufgaben ein. «Ich würde dann schnell sehen, was ich ändern müsse und mit wem ich weiter zusammenarbeiten könne.» Er selbst werde den Ort in nächster Zeit nicht mehr betreten. Einiges, was Brändli in den zum Teil eher maroden Holzbauten antraf, schien ihm wenig geheuer. So war zwar für die Flucht aus dem immerhin siebenstöckigen Personaltrakt – heute als denkmalgeschütztes Bauwerk zu bewundern – eine Leiter vorhanden. Doch bei einem Vollbrand …

Als grösser und komplexer erwiesen sich gesundheitspolitische Herausforderungen. Die von einer gemeinnützigen Stiftung noch als «Volksheilstätte für Lungenkranke» gegründete Anlage war vorab für «arme und wenig bemittelte» Leute aus dem Kanton Zürich gedacht, denen luxuriösere Angebote in den Bergen verschlossen blieben. Der richtige Ort für den Arzt, der in Bauma in einem von den Eltern geführten Altersasyl aufwuchs und den das nahe Erleben vieler Tuberkulose-Fälle zur Berufswahl motivierte. Lungenleiden, auch die durch Tabak oder Luftschadstoffe aller Art verursachten, blieben im Zentrum des zuweilen vehementen, auch ins Politische zielenden Engagements. Krankheiten vermeiden kam für ihn vor dem Heilen. Zugleich galt es, «Patientengut» zu finden, um die Betten zu füllen. Als «junger, dynamischer Chefarzt» habe er, wie ein am Prozess beteiligter Oberarzt attestiert, «in forschem Tempo» die Transformation zu einer «Rehabilitationsklinik mit einem Anteil Akutspital für pneumologische Patienten» geschafft.

Trotzdem wurde zunehmend bezweifelt, ob denn Zürich neben der in Davos etablierten Höhenklinik das 1898 gebaute Sanatorium am Rand des Kantons noch brauche. Die auf das umfassende Reha-Konzept ausgerichteten neuen Sparten empfanden andere Spitäler als Konkurrenz. Wiederholt war von baldiger Schliessung die Rede, was in Wald sogar zu einer Demonstration führte. Für mich unvergesslich das kurze Gespräch danach, als ich mit zwei älteren Frauen auf das Postauto wartete. Die eine sagte zur andern, nun sei sie tatsächlich zum ersten Mal im Leben an einer Demo gewesen. Worauf ich kurz überlegte und schätzte, bei mir könnte es vielleicht die dreihundertste gewesen sein. Ein kurzes Erschrecken, dann Lachen. Immerhin sieht es momentan danach aus, als hätte sich das regionale Aufbegehren gegen den Abbau von auch für Menschen vor Ort nützlichen Infrastrukturen in dem Fall gelohnt. Sogar ein Neubau ist geplant.

Erholung im Tössquellgebiet

Der bei jenem Protest als Wortführer wirkende Pio Meyer, ein stark regional verankerter Unternehmer, fragte in einem seiner Texte: «Kann man als Patient eine Klinik geniessen?» Und sein Ja begründete er nicht zuletzt mit dem als zu abgelegen kritisierten, aber wohl genau darum in jeder Hinsicht erholsamen Standort. Bemerkungen von dort verweilenden Kranken, Genesenden oder diese Besuchenden bestätigen den Eindruck immer wieder. Studien und Experimente trugen das ihre zum besonderen Image bei. 2001 berichtete zum Beispiel ein Patient, der zuvor mit einem der zur Behandlung von Schlafstörungen eingesetzten Geräte eher schlecht zurechtgekommen war, sein störendes Schnarchen und seine Müdigkeit hätten sich nun durch intensives Didgeridoo-Spielen gebessert. Dem gingen die Fachleute auf dem Faltigberg wissenschaftlich sowie mit Praxistests nach, die Sache wurde von Medien aufgegriffen, eine einschlägige Publikation der Uni Zürich gar zur meistzitierten jenes Jahres und das Ganze «zu einer guten PR für die Höhenklinik».

Aufmerksamkeit wird ja dringend gebraucht; das Gesundheitswesen ist ein umkämpfter Markt. «Heute interessiert die Manager und Politiker nur der Gewinn», wird im Buch bitter festgehalten, «als Erfolg eines Spitals oder einer Arztpraxis» gelte «nicht die Verbesserung des Gesundheitszustands der Patienten». Für eine verlässliche Qualitätskontrolle fehlten in der Schweiz die Daten. Tarifsysteme erschwerten den Zugang zu Angeboten, die beim Übergang vom Kranksein zum gesünderen Leben helfen könnten. Spitäler seien, so die Bilanz nach 50-jähriger eigener Erfahrung, ein beliebtes neoliberales Experimentierfeld. «Patienten wurden zu Kunden oder Konsumenten, die Mediziner und Pflegenden zu Leistungsträgern degradiert.» Menge zählt mehr als Nutzen.

Trotzdem gab der nun Achtzigjährige den Arztberuf erst vor kurzem ganz auf. Brauchte er als Klinikchef in turbulenten Momenten selbst Erholung, hat er sich an den oben zitierten Pio gehalten, der auf «die 256 Spazierwege und Oberlandstreifzüge» hinwies, welche das Sanatorium als Ausgangspunkt oder Ziel hätten. Meist wählte er «das einsame Wandern durch das Quellgebiet der Töss» von Wald nach Steg. Es war für ihn «wohltuender als das Zen-Sitzen», habe ihn besser zur Ruhe und zu neuen Ideen kommen lassen.

Mit einem Hauch von Wildnis

Womit ich halbwegs elegant zur zweiten Buchempfehlung kommen kann, zu den von Jürg Alean und Paul Felber zusammengestellten «Wasserwanderungen». Auch diese Autoren – einer wirkte als Geograf, einer als Geologe – sind pensioniert und passioniert. Es ist schon ihr drittes mit Fachwissen gespicktes Tourenbuch. Eine der diesmal siebzehn Routen ist die vom erfahrenen Medizinmann als wohltuend gelobte. Hier wird «wildes Bergland an der Töss» angekündigt. Das ist etwas übertrieben. Wer brav dem markierten Wanderweg folgt, bekommt höchstens beim Brandenfels einen Hauch der in Tobeln und an felsigen Hängen verborgenen Wildnis mit. Aber es stimmt: Der Luchs und die Gämse haben in der Gegend ein Zuhause gefunden – «die einsamsten Landschaften des Kantons Zürich liegen ganz im Südosten». Vieles klingt und ist hier spannend: «Wir steigen durchs industriegeschichtlich bedeutsame Sagenraintobel zum Passübergang Wolfsgrueb» … Wer da notabene nach rechts ausschert, könnte auch zum «Zauberberg» mit der Cafeteria gelangen. Doch der stotzige Weg an die Töss und danach dieser entlang nach Steg lohnt sich. Kurz vor dem Ziel kann in dem Fall vielleicht die Badi-Beiz besucht werden. Denn bei der nächsten Verpflegungsmöglichkeit dürften bald wieder penetrante SVP-Wahlplakate den Appetit und die Laune verderben.

Für den Hochsommer mögen wahrscheinlich «zauberhafte Bergseen im Val da Camp» oder andere Vorschläge zum Bergwandern im «Wasser-Wunderland» Schweiz attraktiver sein. Ziele in der Nähe wären sonst noch der Hallwilersee oder die im Grenzraum von Zürich und Schaffhausen liegenden Thurauen. Zuvor bietet der Spaziergang viele Blicke auf den Rhein. Motto: «Vom Korrigieren zum Naturieren.»

Für den Herbst hätte ich aber noch einen Spezialtipp für den Tösstrip im Angebot. Wie wärs mit dem 30. September oder 1. Oktober? Dann allerdings andersherum – von Steg nach Wald. Denn dort bereitet der Pilzverein am Bachtel für das Wochenende eine Pilzausstellung vor. Und für Samstag ist ein «barockes Feuerwerk» im Sagenraintobel angekündigt. «Es zischt, es glüht, es raucht, es sprüht …» Anders als das Züri-Fäscht, sicher schöner, bei freiem Eintritt. Wenn das Wetter zu schlecht scheint, wird dieser Anlass auf den 28. Oktober verschoben.

Otto Brändli: Der Zauberberg in Wald. Die
Zürcher Höhenklinik 1977-2023. Edition Königstuhl, St. Gallenkappel 2023, 263 Seiten, 25 Franken.

Jürg Alean / Paul Felber: Wasserwanderungen. 17 Routen durch das Wasserschloss Schweiz. Haupt, Bern 2023, 224 Seiten, 38 Franken.

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