«Gierig darauf, die Welt zu sehen»

Die kluge Hängung der Abzüge in der Fotostiftung Schweiz widerspiegelt die Haltung der Fotografin Pia Zanetti (*1943) wie von allein. In der Summe aus empathischer Menschenzuneigung, scheuklappenfreier Neugierde und einem ausgeprägten Arbeitsethos bei zeitgleich situationssicherem Blick und handwerklichem Können resultieren Reportagen, die wirken, als erzählten sie ihre Geschichten ganz spielerisch und mühelos. 

 

Die Zeiten waren andere. Ganz andere. So gerät Pia Zanetti gegenüber Nadine Olonetzky für ihr Katalogessay nachgerade ins Schwärmen, wenn sie von den damaligen Arbeitsbedingungen spricht: «Die Redaktion» von ‹Die Woche› (1951–1973) «mietete für uns ein Pied-à-terre in Zürich, ganzjährig, überwies Vorschüsse und bezahlte Spesen, von denen heutige Fotografinnen und Journalisten nur träumen können». Der Weg dorthin lässt sich indes nur rückblickend als gradlinig darstellen. Als Fotografie-Lehrtochter wollte die junge, zierliche Frau Fontana in den 1950er-Jahren in Basel niemand anstellen. Erst im Atelier für Werbefotografie ihres viel älteren Bruders konnte sie ihr Handwerk erlernen und darüber hinaus auch gleich die Hartnäckigkeit für ein wirtschaftliches Überleben, also den beharrlichen Umgang mit der Zahlungsmoral der Kunden. Zur Vollendung des Rüstzeugs folgte die Kunstgewerbeschule, worauf sie sich mit knapp 20 Jahren selbstständig machte und den Journalisten Gerardo Zanetti kennen und lieben lernte. 

Gemeinsam wurden sie für beinahe vierzig Jahre ein Dream-Team im Leben wie im Beruf. Eine unschlagbare Kombination, nahe eines Ideals. In Ideenfindung, Motivation, Recherche, Akquisition und Büroarbeit können sich zwei ergänzen, einander anspornen wie auch kritisieren, sich gegenseitig durch ihr reines Tun weiterbringen. Hinzu kommt, dass beide «unglaublich gierig darauf (waren), die Welt zu sehen». Und – das zeigt ein Blick auf ihre Homepage – dass sie trotz ihres Erfolgs keinen Dünkel zu entwickeln schienen: Hier finden sich Brotjobs für die Schwerindustrie, den Luxusgütersektor wie auch für Grossbanken gleichberechtigt neben Aufträgen von Hilfswerken und journalistischen Reportagen.

 

Fingerspitzengefühl

Wer nur ein bisschen journalistisch tickt, weiss, was wann wo abgeht und ist, sofern es die Umstände zulassen, dementsprechend immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort. In der Fotografie lässt sich das anhand einer Ausstellung, die eine Berufstätigkeit von insgesamt sechs Jahrzehnten überspannt, natürlich ausserordentlich stringent darstellen. Was an der Hängung von Peter Pfrunder und Teresa Gruber in Zusammenarbeit mit Pia Zanetti aber von Beginn weg auffällt, ist ein darüber hinaus ausgesprochen feinfühliges Fingerspitzengefühl fürs Erzählen. 

Wen-Do-Selbstverteidigung neben Damenmoden-Défilé. Die bessere britische Gesellschaft beim gespannten Warten auf die Eröffnung einer gewichtigen Kunstauktion neben der beinahe haptisch greifbaren Hochspannung auf einen potenziellen Gewinn von Einwandererinnen in einem Londoner Casino. Junge, beschürzte Frauen, die in einem südafrikanischen Homeland für Schwarze das Geschirrtrocknen üben neben abgekämpften alten Männern, die ihren Feierabend in der Goldmine brettspielend, rauchend und schwatzend begehen. Schon das Einzelbild ist bei Pia Zanetti von einer Energie durchdrungen, die mit der klugen Drapierung noch gesteigert wird, sodass zuletzt noch mehr Geschichten erzählt werden als die drei offensichtlichen des einen Fotos, des anderen Bildes und der Interaktion zwischen den beiden Sujets. Die Aufzählung solcher Paarungen und Gruppen liesse sich beliebig fortführen, deren verspielter Reiz auch durch die variantenreiche Präsentation – hinter Glas, direkt an die Wand genagelt, zweierlei Arten von Rahmungen – nochmals hervorgehoben wird. Primär übersetzt diese Anordnung jedoch bloss das bereits in den Fotografien Vorhandene, und das lässt sich mit einer aufrichtig interessierten Hinwendung an die ProtagonistInnen und die jeweilige Situation beschreiben, oder wie Peter Pfrunder es als Titel für seine Einleitung wählt, gleich mit «la condition humaine». 

Egal, ob Reisen mit politischem Blick hinter den Eisernen Vorhang, nach Südafrika unter der Apartheid, Griechenland vor der Militärdiktatur oder sogenannte Gesellschaftsreportagen über die ‹Casa Verdi› (vor Daniel Schmids Film «Il bacio di Tosca»), das bäurische Landleben in Nicaragua oder Strassenszenen aus den Häuserschluchten New Yorks, die Bilder von Pia Zanetti erzählen auch ganz ohne verschriftlichte Verortung je mindestens eine Geschichte – meistens aber mehr.

 

«Pia Zanetti. Fotografin», bis 24. Mai, Fotostiftung Schweiz, Winterthur. Katalog bei Scheidegger & Spiess, 47 Franken. www.fotostiftung.ch

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