Ernstes Thema trifft auf Leichtigkeit und Spass am Schreiben

Im ersten Buch von Veronika Sutter ist das Klischee vom «Fräuleinwunder» weit weg – und das ist keine Frage des Alters: Wie sie die wundersamen Geschichten in «Grösser als du» gefunden hat, erklärt Veronika Sutter im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Ihr erstes Buch «Grösser als du» trägt den Untertitel «Geschichten», doch es handelt sich nicht um klassische, in sich abgeschlossene Geschichten. Vielmehr erfährt man nach und nach, dass mehrere der ProtagonistInnen dieser Geschichten untereinander bekannt oder verwandt sind und zudem in mehr als einer Geschichte auftreten. Weshalb nennen Sie den Band dennoch «Geschichten»?

Veronika Sutter: Was wäre die Alternative? Roman? Ich fand es passender, von «Geschichten» zu sprechen. Es sind Geschichten aus dem Leben, einige Personen, die man früh im Buch kennengelernt hat, tauchen später in den Geschichten anderer wieder auf. Man trifft Figuren zu verschiedenen Zeitpunkten in ihrer jeweiligen Biographie. Dahinter steckt ausserdem etwas, was mich ganz allgemein fasziniert und womit ich mich beschäftigen wollte: In einem geographisch überschaubaren Raum wie der Stadt Zürich, wo die meisten Geschichten spielen, stehen über sechs Ecken oder so alle irgendwie in einer Verbindung zueinander. Das sollte auch für die Personen in meinen Geschichten gelten.

 

Dieses Konzept wäre in einem Roman ebenfalls möglich.

Einen Roman zu schreiben, wäre ein anderer Anspruch gewesen. Es hätte gewissen Geschichten eine grössere Bedeutung zugemessen, die jetzt keinen grossen Zusammenhang mit dem Rest aufweisen. Ich denke da etwa an die Figur von Alexander, der zu Beginn der unbekannte Nachbar ist und dessen Geschichte nicht speziell viel Raum einnimmt. In einen Roman hätte er besser integriert werden müssen. Zudem wollte ich als Gegengewicht zum ernsten Thema des Buches eine gewisse Leichtigkeit einfliessen und den Spass am Schreiben durchschimmern  lassen. Würde «Roman» vorne drauf stehen, hätte ich mir das vielleicht nicht erlauben können.

 

Die einzelnen Geschichten tragen erstens die Namen der Protagonistin bzw. des Protagonisten und zusätzlich einen Titel, zum Beispiel «Unbehaust» oder «Kreuzstich» oder «Freesien». Weshalb beides? Und weshalb sind die Geschichten mal in der ersten, mal in der dritten Person erzählt?

Nur Namen, nur Titel oder beides – alles wäre möglich gewesen, schliesslich fiel die Entscheidung zugunsten von beidem. Allzu grosse konzeptionelle Überlegungen stecken nicht dahinter: Die Lektorin und ich fanden die Kombination schlicht noch reizvoll. Dass sowohl in der ersten wie auch in der dritten Person erzählt wird, hat mehr mit dem Schreibprozess zu tun als mit einer bewussten Entscheidung: Ich habe einerseits nicht alles zu einer bestimmten Figur gleichzeitig geschrieben. Andererseits waren mir einige Figuren einfach näher aus der Sicht von Ich-Erzählerinnen. Bei anderen habe ich bewusst die dritte Person gewählt. Grundsätzlich aber nahm ich stets jene Perspektive ein, die mir am besten von der Hand ging.

 

Einige Personen kommen häufiger vor als andere, etwa die Hauptperson der dritten Geschichte mit dem Titel «Junimond», Gloria: Hat es damit eine besondere Bewandtnis? Und weshalb spielt das Buch zwischen den beiden Frauenstreiks von 1991 und 2019?

Einige Personen haben sich während des Schreibens vorgedrängt, andere hielten sich mehr im Hintergrund. Ersteres war bei Gloria ausgeprägt der Fall, andere Figuren hingegen sind nach ihrem ersten Auftritt wieder im Hintergrund verschwunden. Dies ist während des Schreibprozesses in gewissem Masse einfach passiert, rein zufällig allerdings auch nicht. So habe ich mich beispielsweise bewusst dafür entschieden, auch eine Geschichte aus der Perspektive von Glorias Mann zu schreiben. Die Geschichten handeln alle zwischen dem Frauenstreik von 1991 und dem von 2019, weil sich die Figuren ebenfalls in diesem Zeitrahmen bewegen. Gloria beispielsweise beschliesst am ersten Frauenstreik, ihren Mann zu verlassen – und ausgerechnet am zweiten Frauenstreik, 28 Jahre später, meldet er sich wieder.

 

Das Personal Ihrer Geschichten hat sich demnach selber zusammengestellt?

Ich habe nicht nach Schema F festgelegt, welche Figuren oder welche Orte vorkommen sollten. Auch eine genaue Anzahl Geschichten hatte ich nicht im Kopf, als ich mit der Arbeit am Buch begann. Diese Eckpunkte kristallisierten sich heraus, als der Inhalt Gestalt anzunehmen begann: Ich habe das Thema «Gewalt in Beziehungen» aus verschiedenen Perspektiven und zu verschiedenen Zeitpunkten der Biographien verschiedener Figuren betrachtet, und so hat sich nach und nach das Personal der Erzählungen herauskristallisiert. Manchmal habe ich beim Schreiben gemerkt, dass ich wieder in eine Geschichte reinrutschte, die ich eigentlich bereits geschrieben hatte, aber dass diese Geschichte doch noch nicht abgeschlossen war – und so tauchte eben unter anderen Gloria ein weiteres Mal auf. 

 

Das Thema der Gewaltbeziehungen war aber von Anfang an gegeben?

Es ging mir vor allem um den Aspekt, dass man über Gewaltbeziehungen eigentlich wenig weiss: Selbst im nächsten Umfeld ist es tabu, darüber zu reden, sogar gegenüber Freundinnen bleiben viele Frauen stumm. Ich war früher im Vorstand des Frauenhauses Zürich engagiert und beruflich bei Amnesty International. Da habe ich realisiert, dass sich viele Menschen überhaupt nicht vorstellen können, welche Dynamik solche Beziehungen entwickeln. Sie können nicht verstehen, weshalb Frauen ihre gewalttätigen Männer nicht einfach verlassen. Doch so einfach ist es natürlich nicht. Diese Thematik, die Dynamik in Beziehungen zwischen Liebe, Abhängigkeit und Gewalt und wie schwierig es ist, sich da­ raus zu lösen, hat mich beschäftigt. Angesichts des Ausmasses von häuslicher Gewalt ist es doch erstaunlich, wie wenig nach wie vor darüber geredet und geschrieben wird und wie schlecht sich viele Leute vorstellen können, dass Gewalt auch in scheinbar ganz harmonischen Verhältnissen geschieht.

 

Ich fand es bezeichnend, wie Gloria reagiert, als ihre Grossmutter Anni ihr erzählt, dass Grossvater Gusti sie schlug: Gloria wird wütend – aber nicht in erster Linie auf Gusti, sondern auf Anni, weil sie nie etwas gesagt und keine Hilfe geholt hat…

Genau, und dabei hat Gloria nicht nur dasselbe erlebt, sondern sie und Anni stehen sich auch nahe, sie sehen einander regelmässig. Trotzdem fällt es beiden sehr schwer, über die Gewalt zu reden, die sie in ihren Beziehungen erfahren haben.

 

Das einzige Thema sind Gewaltbeziehungen aber nicht – wie haben die anderen Themen ihren Weg ins Buch gefunden?

Das Thema der Parallel-Leben etwa von Figuren wie Alexander oder auch das des «Spanners» aus der Geschichte «Walter. Mittagspause» finde ich interessant, weil es ebenfalls von den Geschichten hinter dem handelt, was man vordergründig von einem Menschen sieht oder erzählt bekommt. Dazu kommen Schilderungen von Figuren, die mir über den Weg gelaufen sind, oder von Menschen, denen ich vor vielen Jahren begegnet bin. Vielleicht hatte ich nicht einmal gross zu tun mit ihnen, aber  beim Schreiben sind sie plötzlich aufgetaucht und boten sich als literarische Vorlage an. Einige Geschichten entstanden auch aufgrund von Dialogfetzen, die ich irgendwo im öffentlichen Raum aufgeschnappt habe. Das waren teils Gesprächsbrocken, von denen ich dachte, das gibts ja nicht, da fällt mir eine Erzählung direkt vor die Füsse. Solche Alltagsbeobachtungen nahm ich als Inspiration auf und schaute, ob sich eine Geschichte daraus schreiben liesse. Bei einigen funktionierte es, anderes liess ich wieder fallen.

 

Speziell finde ich auch die farbigen Beschreibungen, etwa in der ersten Geschichte, in der die Protagonistin Helen feststellt, dass es in ihrer alten Wohnung einen Hohlraum gibt zwischen einem Holzschrank auf dem Balkon und einem Kasten über dem WC – und sich seither Sorgen macht, jemand könnte so in ihre Wohnung einsteigen…

Diese Geschichte ist sehr intuitiv entstanden: Ich sah einmal einen solchen Kasten, hatte zuvor aber nicht gewusst, dass es so etwas gibt. Dabei sollen diese Einrichtungen in Häusern aus den 1930er-Jahren recht gebräuchlich gewesen sein und als Wäscheschacht gedient haben. Ich fand das spannend, und dieser Kasten war tatsächlich der Auslöser dieser Geschichte, sozusagen die ‹Hauptperson›, und die Handlung hat sich daraus ergeben.

 

Wie lange haben Sie am Buch gearbeitet?

Das ist schwer zu sagen: Vor zirka eineinhalb Jahren habe ich beschlossen, eine Sammlung von Erzählungen abzuschliessen. Viel vom Material, das damals bereits vorhanden war, habe ich dann jedoch nicht verwertet, beziehungsweise ich habe relativ viel verworfen, woraufhin wieder Neues entstanden ist. 

 

Sie haben also schon früher geschrieben? 

Ich habe schon als Kind gern geschrieben, und ich hatte mit etwa Mitte 30 eine Phase, in der ich viel schrieb und auch zwei, drei Kurzgeschichten veröffentlichte. Doch in meinem Leben drängten sich immer wieder andere Sachen vor, die offenbar wichtiger waren, die Zeit verging – und eines Tages fragte ich mich dann, ob ich es doch noch probieren oder nicht einfach bleiben lassen sollte: Ich wollte in Bezug aufs Schreiben einen Entscheid fällen, und so rückte es in den Vordergrund. Es ist aber ein anderes Schreiben als in jungen Jahren…

 

Inwiefern?

Ich las kürzlich ein Interview mit einer Schriftstellerin, die vielleicht 26, 27 Jahre alt ist, und dabei fiel mir auf, wie viel es in Bezug auf das Schreiben ausmacht, wo man steht im Leben. Als ich so jung war, hätte ich nicht das Selbstvertrauen gehabt, um mit literarischen Texten an die Öffentlichkeit zu gehen. Mir hätte auch die dicke Haut gefehlt, die es braucht, um Kritik auszuhalten. Heute kann ich mir sagen, gut, das Buch ist geschrieben,  und ich kann damit umgehen, wenn es nicht gross beachtet oder kritisiert würde. In jungen Jahren hätte mir diese Gelassenheit gefehlt. Angesichts der Überlegungen, ob ich versuchen sollte, etwas zu publizieren, kam ich zum Schluss, dass ich mir nicht dereinst auf dem Sterbebett sagen will, du Feigling!, du hast es nicht mal probiert…

 

Wie schwierig war es, einen Verlag zu finden ?

Ich habe mich erst auf den Webseiten von Verlagen schlau gemacht und die Empfehlungen, die dort fürs Einsenden von Manuskripten zusammengestellt sind, genau befolgt. Meine Probeseiten schickte ich sechs Verlagen. Fünf reagierten nicht, doch die Edition 8 signalisierte Interesse an den Geschichten, und bei diesem Verlag erscheint das Buch noch diesen Monat.

 

Sutter, Veronika: Grösser als du. Geschichten. Edition 8, Zürich 2021, 192 Seiten, ca. 25 Franken, erscheint im März.

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