Geld, Gier & Gerechtigkeit

Fast alles in der Welt dreht sich um Geld. Es schafft Anerkennung und ermöglicht individuelle Freiheit. Das Versprechen des Kapitalismus lautet, dass eines Tages alle Anteil am Reichtum hätten. Doch die Geschichte zeigt: Das Geld kann keine Gleichheit gewähren. Zwei ganz unterschiedliche Bücher befassen sich mit der Frage, was das Geld mit Menschen macht.

 

Kurt Seifert

 

Der deutsch-jüdische Philosoph Walter Benjamin hat ein Textfragment mit dem Titel «Kapitalismus als Religion» hinterlassen, das 1921 entstand und zum Ausgangspunkt zahlreicher Interpretationen geworden ist. Benjamin behauptet, der Kapitalismus habe das Erbe der Religionen angetreten, da er die Absolutheit für sich beanspruchen könne, die einst die Domäne der Religionen gewesen sei. Der Kapitalismus diene «der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die die ehemals so genannten Religionen Antwort gaben», heisst es in diesem Fragment.

 

Die kapitalistische Religion dreht sich um das Wachsen und Mehren des Geldes: Waren herstellen, verkaufen, kaufen und besitzen – das ist der Kult dieser Religion. Etwas anderes gibt es nicht. Doch weshalb entwickelte der Tanz um das goldene Kalb eine solche Macht? Das hat mit der Rolle der Religion zu tun, bei der es um Fragen von Schuld und Erlösung geht. Der Philosoph stellt fest: «Ein ungeheures Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen weiss, greift zum Kultus». Doch dies gelinge ihm nicht. Im Gegenteil: Die Schuld werde «universal».

 

An dieser Stelle vermischen sich die Ebenen. Heute ist offenkundig, dass das System des Kapitalismus auf Verschuldung beruht. Um das zu wissen, genügt ein Blick in die Tageszeitung oder auf die TV-Nachrichten. Doch was hat die finanzielle Verschuldung mit dem «ungeheuren Schuldbewusstsein» zu tun, das Benjamin als Stoff des Religiösen beschreibt? Da geht es doch um Fragen der Moral, nicht um solche der Ökonomie. Und folgt man dem Zeitgeist, so ist die Moral doch schon längst aus dem Bannkreis der Religion herausgetreten.

 

Am Anfang war das Menschenopfer

So muss gefragt werden, wo dieses «ungeheure Schuldbewusstsein» denn herkommt und was es mit dem Kapitalismus zu tun hat. Eine kühne Erklärung, die sich über annähernd 500 Seiten erstreckt, bietet der emeritierte deutsche Philosophieprofessor Christoph Türcke mit seinem neuesten Buch «Mehr! Eine Philosophie des Geldes» an.

Sein Werk besteht aus zwei Hauptteilen: Im ersten geht Türcke auf die «Genealogie des Geldes» ein, im zweiten beschreibt er das «System des Geldes». Genealogie, das meint so etwas wie die Ahnengeschichte. Grosse Teile davon liegen im Dunkeln und deshalb bedarf es eines mutigen Zugriffs, die Erinnerungsspuren des Menschengeschlechts zu deuten und in einen schlüssigen Zusammenhang zu bringen.

Türckes These lautet: Am Anfang der Geldgeschichte steht das Menschenopfer. Die Schrecken der Natur sollten durch dieses Opfer gebannt werden. Das Opfer wurde ausgewählt und geschlachtet, damit das Kollektiv überleben konnte.

Diese «Primärzahlung» befinde sich allerdings von Anfang an in einer «Schieflage», so der Autor: Seine gefühlte Schuld gegenüber den Naturmächten habe das Kollektiv nie voll begleichen können, da es immer «zu wenig» hergegeben habe – andererseits aber ungeheuer viel, «nämlich Unentbehrliches». Gegenüber den imaginierten höheren Mächten blieb «stets mehr Opferschuld übrig, als sich zahlen lässt».

 

Aus der «grauenhaften Erfahrung des ‹nie genug›» sei, so Türcke, allmählich die «Opferlist» entstanden: Wenn das Geopferte in keinem Fall genüge, könne das Opfer genauso gut geringer ausfallen. So wurden allmählich die dargebrachten Menschenopfer durch andere ersetzt, die weniger schmerzten.

Als Ersatz boten sich Tieropfer an. Verschiedenes – Mensch und Tier – wurde hier gleichgesetzt. Die höheren Mächte liessen sich diesen Tausch anscheinend bieten, und so machte sich mehr und mehr eine «ungeheure Erleichterung» breit, schlussfolgert der Autor aus den übrig gebliebenen Zeugnissen der Urgeschichte der Menschheit.

Seine Darstellung kommt hoch spekulativ daher und wird von der Fachwissenschaft möglicherweise scheel angesehen. Und doch hat sie ihren Reiz, weil die Entwicklung des Geldes in eine Kette von Äquivalenten dargestellt wird: vom «Urgeld» des Menschenopfers bis hin zum elektronischen Geld. Anhand der jeweiligen Tauschverhältnissen vermag sie aufzuzeigen, dass in ihnen die Vorläufer aufgehoben sind – dies im dialektischen Sinn eines Bewahrt-Seins auf einer höheren Ebene wie eines Erledigt-Seins.

 

Die ursprüngliche Akkumulation

Die Geschichte des Geldes ist jenes des Opfers und seiner Profanisierung. Heute erscheint das Geld einfach als Zahlungsmittel, dessen Metamorphosen ihm nicht mehr anzusehen sind. Allerdings zeigt die Bedeutung, die wir dem Geld geben, immer noch an, dass es um mehr als Zahlungen geht. Bevor dies etwas deutlicher werden kann, bedarf es eines weiteren Gangs durch die Genealogie des Geldes.

Das Opfertier war wertvoll, aber weniger wert als der Mensch. Wollte man auch nicht mehr auf die geopferten Tiere verzichten, so musste etwas anderes an deren Stelle treten: edles Metall wie Gold und Silber. Dieser Übergang vom lebendigen zum toten Opfer stellte zunächst ein ungeheures Sakrileg dar. Der Entscheid, den Göttern Gold als Opfergabe anzubieten, habe sich dann allerdings als «eine der folgenreichsten Weichenstellen» für den Kulturkreis erwiesen, dem später das Christentum entstammte, hält Türcke fest.

 

Noch etwas zu den Edelmetallen. Sie sind so etwas wie der Abglanz der Gestirne: das Gold der Sonne, das Silber des Mondes und das Kupfer der Venus. Die unterschiedliche Wertschätzung der Metalle hat nicht nur etwas mit der unterschiedlichen Menge ihres Vorkommens zu tun, sondern vor allem – mit dem Sieg des Patriarchats über die Muttergottheiten! Dies ist zumindest die Schlussfolgerung des Autors, der für seine These zahlreiche Belege findet.

Im Gegensatz zu geopferten Lebewesen blieb das metallene Opfer in seiner Substanz erhalten. Zudem sammelte es sich dort an, wo es geopfert wurde: in den geheiligten Stätten. Der Tempelschatz entstand und mit ihm die «ursprüngliche Akkumulation» von Reichtum. Die Priester als Hüter des Schatzes konnten diesen vermehren, indem sie die Opfergaben an Opferwillige verliehen und diese Gaben mit Gebühren zurückerhielten.

Hier begann, was Karl Marx später als «Plusmacherei» beschrieben hat. Die Gier der Priester nach mehr Metall sei, so Christoph Türcke, bloss die «Erscheinungsform von etwas anderem» gewesen: «dem Bedürfnis, eine Schuld zu begleichen. Und die Grundschuld des Tempelschatzes ist, den Göttern etwas Ungeniessbares darzubringen, es ihnen zu weihen und zugleich vorzuenthalten, es ihnen ganz zu geben und doch die Verfügung darüber zu behalten.»

 

Der Siegeszug des Geldes

Mit der Münze tritt das Geld aus dem sakralen Bereich heraus. Es ist keiner höheren Macht mehr bestimmt, sondern wird zum Äquivalent, das den Zugang zur Welt der Gebrauchsdinge ermöglicht. Gleichwohl schleppt die Münze ihre «sakrale Vorzeit, der sie entsprungen ist», mit sich. Türcke spannt den Bogen sehr weit, um die Dialektik des Geldes, das Wirken des Sakralen im Profanen, zu verdeutlichen.

Damit die Münze und damit die kapitalistische Geldwirtschaft ihren Siegeszug antreten konnte, bedurfte es einen zweiten Anlaufs. Die ersten Münzen waren aus griechischen Tempeln hervorgegangen. Mit dem Zerfall des Römischen Reiches kam der Münzverkehr beinahe zum Erliegen. Erst im Umfeld der christlichen Klöster wurde die Münze wieder «systemrelevant», und zwar als Teil des Systems der Schenkungen.

 

Der biblisch bezeugte Gott legte keinen Wert auf Opfer, sondern auf die Umkehr der Herzen. Dieser innere, mentale Akt bedurfte äusserer Beglaubigung, und diese Rolle übernahm die Schenkung. Ohne die Gaben in Form von Naturalien und zunehmend auch von geprägten Münzen hätten die mittelalterlichen Sakralbauten Europas, die wir heute noch bewundern, nicht entstehen können.

Nicht nur der Bau von Kirchen erzeugte einen Hunger nach Geld. Auch die Kreuzzüge mussten finanziert werden. Dafür wurde eine Steuer erhoben, deren Einzug organisiert werden musste. Im Schosse der Kirche entstanden also die Grundlagen für eine zentrale Verwaltung. Zudem betrauten Päpste und Bischöfe Bankiers mit der Hege und Mehrung des Geldes. Immer noch stand die sakrale Bedeutung des Opfers im Zentrum, doch mit dem Vordringen der Münze wurden die feudalen Verhältnisse nicht abrupt, sondern ganz allmählich über den Haufen geworfen.

 

Die Wende trat ein, als die Kurie beschloss, Land gegen Geld zu verkaufen. Nur sie war «in der Lage, die Münze zum regulären Äquivalent für Grundbesitz zu machen», und übte so «die Mentalität der prinzipiellen Käuflichkeit aller Dinge» ein, wie Türcke formuliert.

Damit war die Profanisierung des Geldes endgültig vollzogen und der Kapitalismus konnte sich entfalten. Wie er dies tat, lässt sich beispielsweise bei Karl Marx nachlesen, auf den sich der Autor immer wieder bezieht. So wichtig dessen Analysen sind, so reichen sie doch für Christoph Türcke zu wenig weit.

Wer das Geld nicht im Kontext der Opferschuld gegenüber höheren Mächten sieht, der greift zu kurz. Von der Jagd nach dem Gold der Azteken bis hin zur Golddeckung der nationalen Währungen, die erst vor wenigen Jahrzehnten definitiv aufgegeben wurde, kommt mehr oder weniger verdeckt der Glauben an und das Hoffen auf den himmlischen Segen, der sich im Edelmetall widerspiegelt, zum Ausdruck.

 

«Ein Prozent» … und der Rest?

Das Thema des Opfers bleibt aktuell. Der Kapitalismus verspricht Fortschritt und Wohlstand, der allerdings mit Blut, Schweiss und Tränen erarbeitet sein will. Wer auf der Strecke bleibt, ist vermutlich selbst dafür verantwortlich. Schulden treiben ganze Staaten in den Ruin – und Rettung wird nur gewährt, wenn Regierungen bereit sind, soziale Standards auf Kosten grosser Teile des Volkes zu senken. Gegenwärtig erleben wir dies am Beispiel von Griechenland.

Doch nicht nur in den Krisenstaaten, sondern auch anderswo droht der Ausgleich zwischen «oben» und «unten» zu bröckeln, der nach langem Ringen zwischen Proletariat und Bourgeoisie erreicht werden konnte (nicht zuletzt auch dank der zeitweiligen Existenz eines «sozialistischen Lagers»). Das berühmte «eine Prozent» ist immens reich geworden und koppelt sich immer mehr vom Rest der Gesellschaft ab.

 

Wie kann die Herrschaft des grossen Geldes besser eingehegt werden? Zahlreiche Vorschläge sind in den vergangenen Jahren entwickelt worden, die alle daran mangeln, dass sich die Nationalstaaten nicht für deren Verwirklichung und Durchsetzung zuständig erklären: Man will das Kapital, das «scheue Reh» (Marx), nicht vergraulen.

Ein wirksames Mittel, die Macht des Besitzes zu begrenzen, ist die Erbschaftssteuer. Deren Einführung gehörte übrigens zum Sofortprogramm des «Kommunistischen Manifests» von Karl Marx und Friedrich Engels. Sogar der frühere schweizerische Finanzminister Kaspar Villiger hielt die Erbschaftssteuer für «gut zu rechtfertigen» – vor allem, nachdem immer mehr Kantone darauf verzichtet hatten, Erbschaftssteuer für die direkten Nachkommen zu erheben.

 

Die Erbschaftssteuer als nächster Schritt?

Jetzt haben wir die Gelegenheit, einen solchen Schritt zu tun – auch wenn vermutet werden muss, dass viele, die keine Aussicht auf ein nennenswerte Erbe haben, im Interesse der Besitzenden stimmen (oder ganz zuhause bleiben) werden. «Wir Erben», das Buch der deutschen Journalistin Julia Friedrichs, wirft ein Schlaglicht auf die wachsende Ungleichheit, die durch den Vermögenstransfer zwischen den Generationen vorangetrieben wird. Anhand zahlreicher Porträts und vertiefter Analysen geht sie der Frage nach, was das Geld mit Menschen macht.

Ihre Bilanz ist ernüchternd: Die Erbengesellschaft unterhöhlt die Demokratie. Ob es gelingen wird, einen radikalen Wechsel der Politik im Hinblick auf Privatvermögen und Erbschaften einzuleiten? Friedrichs bleibt skeptisch. Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger könnten sie eines Besseren belehren. Nutzen wir die Chance!

 

Christoph Türcke: Mehr! Philosophie des Geldes. München (Verlag C.H. Beck) 2015, 480 Seiten, 29.95 Euro.

Julia Friedrichs: Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht. Berlin (Berlin Verlag) 2015, 320 Seiten,
19.99 Euro.

 

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