Geister

Die Kunde von der im Sterben liegenden Mutter zwingt Sou zur Selbstkonfrontation.

Ihre Vergangenheit scheint Sou (Nadine Labaki) zu Beginn von Tamer Rugglis «Retour en Alexandrie» erfolgreich überwunden und weit hinter sich gebracht zu haben. Erfolgreich hat sie sich aus dem Würgegriff der Tentakel, einer Mischung von emotionaler Erpressung und egozentrischer Vernachlässigung ihrer Mutter Fairouz (Fanny Ardant) befreit und führt fernab der Verklärung der Grandezza einer im Früher schwelgenden Weltabgewandtheit der ägyptischen Oberschicht ein selbstbestimmtes Leben. Dann ruft Tante Indji (Menha El Batroui) an und gibt unmissverständlich den Tarif durch, sie erwarte Sou morgen in Kairo zum Tee, um mit ihr in der Folge der im Sterben liegende Fairouz in Alexandria einen würdigen letzten Besuch abzustatten. Der selbstverständliche Befehlston und die trotz allem in Sou wider Erwarten pfeilschnell hochkommenden Schuldgefühle einer sie als Kind wirklich, wirklich nicht gefördert habenden Mutter, werfen sie aus der Bahn. Aber damit nicht genug. Die Geister der Vergangenheit – also Fanny Ardant als ihre exaltierte Mutter mit sich selbst als kleinem Kind im Schlepptau – erscheinen ihr gefühlt leibhaftig und verstärken den Druck auf sie, das Vergangene vergangen bleiben zu lassen, mit einer gewissen Distanz auch einmal verzeihen können zu müssen, etcetera, sodass Sou nichts anderes übrig bleibt, als sich dieser unangenehmen Reise in die Dunkelkammer ihrer Vergangenheit zu stellen. Die Filmsprache, die Musik, die Konversationen sind wahnsinnig (schön) schwelgerisch in Szene gesetzt. Tonfall und Realität der älteren Generation, die in ihrem aristokratischen Duktus von ehedem in ihren Grosswohnungen vor den Tatsachen im Versteckten lebt und das konkrete Chaos draussen im Millionenmoloch stehen bildhaft für die Kollision, wie sie Sou emotional in einem Duell zwischen Über- und Bewältigung nur Notdürftig überhaupt zu bändigen als kolossale Herausforderung direkt vor sich hat.

«Retour en Alexandrie» spielt im Kino Piccadilly.

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