Ganz Zürich?

«Ganz Zürich hasst die Polizei», sollen die Nachdemonstrierenden am vergangenen 1. Mai unter anderem skandiert haben. Diese Parole hört man nun seit etwa zehn Jahren an Demos, nicht nur hier, «Zürich» ist austauschbar etwa mit «Berlin» oder jeder anderen Ortschaft, in der Linke oder Rechte demonstrieren. Die Aussage gibt mir zu denken:

– Sie ist anmassend. Ganz Zürich, wirklich? Die Unterstellung, auch ich hasse die Polizei – ich lebe immerhin seit über 30 Jahren in dieser Stadt – ist arrogant. Was sind das für Leute, die mir sagen wollen, wie ich denke? Die Vorstellung, dass alle anderen eigentlich gleich denken wie man selbst (sie wissen es nur noch nicht), ist entweder naiv oder überheblich. Die Idee, man müsse als kleine erleuchtete Gruppe vorangehen, die Verhältnisse gewaltsam umstürzen, dann würden die Massen erwachen und sich begeistert hinter einem scharen, hat schon so manche Weltgegend ins Elend gestürzt.

– Sie ist ausschliessend. Wer die Polizei nicht hasst, gehört anscheinend einfach nicht dazu, ist kein echter Zürcher. Das hört sich sehr ähnlich an wie die Behauptung von rechts, wer Ausländer:innen für gleichwertig halte, sei kein richtiger Schweizer.

– Sie ist unpolitisch. Hass auf die Polizei ist zumindest in einer Demokratie kein ernst zu nehmendes Programm. Wer seine Energie dafür verschwendet, kann sie nicht mehr für ein wirkliches politisches Anliegen aufwenden.

Dass die Polizei immer wieder durch Fehlleistungen auffällt, ist unbestritten. In Basel den bewilligten Umzug zu blockieren, geht gar nicht. Einsätze bei linken Demos sind oft unverhältnismässig, während rechte Gewalt gern bagatellisiert wird. Es ist wichtig, der Polizei genau auf die Finger zu schauen und dafür zu sorgen, dass sie ihren Auftrag verhältnismässig umsetzt – dies ist aber Aufgabe der Politik, sie muss die Polizei an die kurze Leine nehmen und bei Verfehlungen konsequent einschreiten. Beim Ansinnen aber, die Politik dafür zu sensibilisieren, sind kriegerisches Auftreten und Hassparolen wohl wenig hilfreich.

Ich erinnere mich an eine Situation vor etwa 30 Jahren, damals ging ich selbst noch an Nachdemos und rief wohl auch gelegentlich Parolen gegen die «Bullen». Es war eine Frauendemo, wir gingen als kleines Grüppchen von Männern mit ein paar Metern Abstand solidarisch hinterher, dazwischen zwei Kastenwagen der Polizei. In der Langstrasse fand es einer von uns lustig, Männer in einem SUV zu provozieren. Diese stiegen aus und gingen mit Baseballschlägern auf uns los. Da schauten wir aber, dass wir schnell zwischen die beiden «Sixpacks» zu stehen kamen. Wir nahmen also den Schutz der Polizei gern in Anspruch. In vielen anderen Ländern hätten die Polizisten nun eine Zigarette angezündet und zugeschaut, wie uns die Zuhälter zu Brei schlugen (oder ihnen gar dabei geholfen). In der Schweiz jedoch können auch wir Linken darauf zählen, dass die Polizei – in aller Regel – ihren Job macht. Dies ist die Wirkung der demokratischen Kontrolle, und sie ist sehr hoch zu schätzen.

Natürlich höre auch ich die Parole «Ganz Zürich hasst die Polizei» nicht als wörtlich zu verstehende Meinungsäusserung aller, die sie rufen. In der Jugend darf man noch etwas wild und unreflektiert sein. Aber die Hemmung, Polizist:innen auch wirklich tätlich anzugreifen, scheint in letzter Zeit abzunehmen – das besorgt mich. Der Unterschied zwischen rechter und linker Gewalt war doch immer (ich wurde nach der RAF-Ära politisiert), dass sich die rechte Gewalt gegen Menschen, die linke nur gegen Sachen richtete. Das ist wichtig. Hass und Prügel sind die Mittel der Gegenseite, nicht unsere.

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