Femizide: Wie berichten ­Medien?

Wie schreiben Medien über Frauentötungen? Diese Frage führt immer wieder zu hitzigen Diskussionen. Der Vorwurf von AktivistInnen: Gewalt an Frauen wird sprachlich verharmlost. Eine Bachelorarbeit an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften hat diesen Vorwurf anhand von drei reichweitenstarken Onlinemedien untersucht. 

 

Der letzte Versuch war diesen Montag: Ein Mann in Olten greift eine Frau mit einem Messer an. Sie bleibt zum Glück unverletzt. Alleine für dieses Jahr zählt das Rechercheprojekt Stop Femizid bereits 21 Frauentötungen in der Schweiz, dazu kommen zehn weitere versuchte Femizide. Eine Bachelorarbeit an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften hat jetzt untersucht, wie Medien über Frauentötungen berichten. Untersucht wurden 103 Artikel von blick.ch, nzz.ch und tagesanzeiger.ch aus dem Jahr 2020. Das Fazit? Mehr als drei Viertel der untersuchten Artikel sind verharmlosend. 

 

Wie Verharmlosung geschieht

Das erste Mal taucht der Begriff «Femizid» gemäss Schweizer Mediendatenbank im Jahr 2000 in einem Artikel über die amerikanische Feministin Andrea Dworkin auf; in der Folge wird der Begriff im Zusammenhang mit PalästinenserInnen oder BrasilianerInnen verwendet, auf Menschen im Asylsystem und auf KongolesInnen angewendet. Erst am 06. Juni 2019 taucht der Begriff ein erstes Mal auch im Zusammenhang mit Tötungen in der Schweiz auf, in einem Artikel der WOZ. Das Datum passt: Im Rahmen des feministischen Streiks am 14. Juni 2019 kritisierten Aktivist­Innen, JournalistInnen und Wissenschaftler­Innen lautstark, dass die mediale Berichterstattung in der Schweiz Frauentötungen verharmlost oder gar unsichtbar macht. 

Wie das genau geschieht, hat Journalistin Emma-Louise Steiner in ihrer Bachelorarbeit aufgezeigt. Bekannt sind die Verharmlosungen von Frauentötungen als «Beziehungsdramas» oder «Familientragödien». Stellvertretend dafür steht eine Schlagzeile von blick.ch
vom 17.05.2020: «Blutiges Beziehungsdrama in Giubiasco TI: Ex-Polizist erschiesst Pärchen». Subtiler ist die Beobachtung, dass der Tötungsakt oft in passiver Sprache beschrieben wird: Aus «Der Bruder erstach seine Schwester» wird «Das Opfer wurde erstochen» – und der Täter wird unsichtbar. Ein besonders heimtückischer Mechanismus ist das sogenannte victim-blaming, also die ausdrückliche oder indirekte Schuldzuweisung an das Opfer. Dies geschieht etwa, wenn auf eine Trennung des Opfers vom Mörder verwiesen wird. So spekuliert der Journalist oder die Journalistin über die Motive des Täters – und liefert gleichzeitig einen Vorwand, nicht über strukturelle Gewalt an Frauen sprechen zu müssen. Gemäss Steiners Untersuchung weisen ein Drittel der untersuchten Beiträge direktes oder indirektes victim-blaming auf.

 

Knifflige Fragen

Ist die Autorin überrascht über die Ergebnisse ihrer Untersuchung? «Ich wusste aus meiner eigenen Arbeit und meinen Interviews mit Expertinnen, was mich erwarten würde. Aber dass mehr als drei Viertel der Artikel Femizide verharmlosend beschreiben, hat mich überrascht.» Eine weitere Beobachtung der Arbeit: Der Begriff Femizid wird gerade Mal in rund 10 Prozent der untersuchten Artikel verwendet. Grund dafür dürfte neben der relativ jungen Begriffsgeschichte in der Schweiz auch das Fehlen einer abschliessenden Definition sein. Klar ist: Femizid ist kein juristischer, sondern ein politischer Begriff. Daher stellen sich für JournalistInnen viele knifflige Fragen: Ist eine Tötung erst dann ein Femizid, wenn eine Frau aufgrund ihres Geschlechts getötet wird? Oder ist jede Tötung einer Person, die der Täter als Frau wahrnimmt, ein Femizid? Machen sich JournalistInnen zu AktivistInnen, wenn sie eine Frauentötung als Femizid bezeichnen, ohne das Motiv der Täterschaft abschliessend zu kennen? 

Sie habe durchaus Sympathie für diese Diskussion, sagt Emma-Louise Steiner dazu. «Die Frage, ob wir zuerst das Motiv herausfinden müssen, bevor wir eine Frauentötung einen Femizid nennen, ist durchaus spannend.» Femizid könnte wie Mord zu einem juristischen Begriff werden, mit klarer Definition. «Dann könnte man von einem mutmasslichen Femizid sprechen, bis der Täter rechtskräftig verurteilt ist.» In vielen lateinamerikanischen Ländern ist Femizid bereits ein Straftatbestand, in Deutschland gibt es aktuell entsprechende Forderungen. In der Schweiz sieht der Bundesrat bisher keinen Handlungsbedarf, das Strafrecht entsprechend anzupassen, wie er letztes Jahr in einer Interpellationsantwort festhält. 

Steiner hält trotzdem wenig vom Vorwurf, JournalistInnen würden aktivistisch handeln, wenn sie heute eine Frauentötung als Femizid bezeichnen. «Wir können eine Tötung nicht losgelöst von der politischen Realität betrachten. Und in dieser patriarchalen Realität ist das Leben von Frauen weniger wert. Deswegen müssen wir konsequent von Femiziden sprechen.» Allerdings würde man in der JournalistInnen-Ausbildung kaum lernen, diese Strukturen zu benennen und kritisch zu reflektieren, sagt ZHAW-Abgängerin Steiner. «Das Werkzeug, problematische Narrative zu erkennen und zu hinterfragen, anstatt sie einfach wiederzugeben, wurde uns nicht mitgegeben.» Weiter scheint man in Luzern zu sein: An der JournalistInnenschule MAZ würde Femizid als Querschnittthema in verschiedenen Kursen, etwa Medienethik oder bei Schreibkursen behandelt, schreibt Studienleiterin Claudia Schlup auf Anfrage. «Wir sind aber unsere Schreibkurse momentan am Weiterentwickeln, sodass dieser Problematik noch stärker Rechnung getragen wird.» 

Und was tut sich auf den Redaktionen von ‹Blick›, ‹Tages-Anzeiger› und NZZ? Letztere antworten auf Anfrage: «Zum Thema Femizide bestehen keine speziellen Richtlinien. Auch bestehen keine Pläne, solche Richtlinien auszuarbeiten.» Allerdings lege man wie in allen Bereichen einen grossen Wert auf sprachliche und ethische Korrektheit. Bis zum Redaktionsschluss antworteten die anderen beiden Redaktionen nicht. ‹20 Minuten›, das zwar nicht in der Bachelorarbeit untersucht wurde, aber wie der ‹Tages-Anzeiger› zur TX Group gehört, hat Ende 2020 ein sogenanntes Social Responsibility Board eingeführt, das für eine «nicht-verletzende Berichterstattung» sorgen soll. Dessen Definition von Femizid? ‹20 Minuten› verwendet den Begriff immer dann, wenn ein Mann eine Frau oder ein Mädchen tötet.» Für alle anderen Redaktionen haben die Journalistin Nadia Brügger und Sylke Gruhnwald von Stop Femizid einen Leitfaden erstellt, der online abrufbar ist.

 

Transparenz: Studienautorin Emma-Louise Steiner schreibt für das Onlinemagazin ‹Das Lamm›, bei dem auch der Autor dieses Artikels als Redaktor tätig ist. Sie sind ausserdem befreundet.

 

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