Faktisches, Postfaktisches

Die Folgen der Austeritätspolitik: Hohe Arbeitslosigkeit, abgewürgte Konjunktur, Verlängerung der Rezession. Zu diesem Schluss kam der Oxford-Ökonom Simon Wren-Lewis in seinem Papier ‹A general theory of austerity›. Die harten Austeritätsmassnahmen hätten sich nicht nur kontraproduktiv ausgewirkt, sie seien meist auch gar nicht nötig gewesen. Selbst in Ländern wie Irland, Portugal oder Griechenland, in denen die Staatsdefizite bedrohliche Ausmasse angenommen haben, hätte man mit milderen Massnahmen weitaus bessere Resultate erzielt. Warum macht man es dann? Wren-Lewis hat dafür in erster Linie eine politische Erklärung: Die politische Rechte will in erster Linie einen schlankeren und kleineren Staat. Dieses Ziel ist politisch nicht so populär, das Sanieren der Staatsfinanzen hingegen schon. Also versucht man ersteres mit dem zweiten zu erreichen. Und alle machen mit: Mindestens die mitregierenden SozialdemokratInnen und die Medien. Der Widerstand kommt meist bloss von ausserhalb.

Das überrascht kaum. Auch für die Schweiz gilt: Schulden und Defizite sind schlecht, das Instrument der Schuldenbremse schon fast ein Nationalheiligtum. Der amerikanische Journalist Ezra Klein schrieb in einem Artikel über die Budgetauseinandersetzungen 2013, dass die Medien in dieser Frage ihre sonstige politische Neutralität vollständig aufgeben würden. Es sei völlig unbestritten, dass ein Defizit schlecht sei. Und das zum Stopfen des Lochs nur eine Lösung in Frage kommt: Das Kürzen von Sozialleistungen.

Das gilt auch für den Diskurs in der Schweiz. Wenn es zum Beispiel um die Altersvorsorge geht. Die Diskussion ist so: Wir haben ein Riesenproblem. Gigantische Defizite. Also muss man was tun. Nämlich Leistungen abbauen. Es ist zwar politisch nicht unbedingt einfach, das Rentenalter zu erhöhen. Aber: Bei einem Defizit muss man sparen. Ist doch logisch. Das macht jeder, der gerade knapp bei Kasse ist. Der Staat ist allerdings kein privater Haushalt und auch keine schwäbische Hausfrau. Und dass man sparen und kürzen muss, ist kein ökonomisches Naturgesetz, sondern schlicht eine Frage des politischen Willens. In der politischen und öffentlichen Diskussion ist das Verringern von Defiziten längst zum Selbstzweck geworden. Es geht höchstens noch darum, wer am besten spart. Oder ob, wie es Markus Häfliger im ‹Tages-Anzeiger› schrieb, die Bürgerlichen noch die grösseren Verschwender als die Linken seien.

Wissenschaft, auch Ökonomie, entsteht nicht im luftleeren Raum. Sie ist geprägt von Diskursen, Kontroversen und Weltanschauungen. Das zu erkennen, zu diskutieren, zu prüfen und daraus die eigenen Schlüsse zu ziehen ist das Wesen der aufgeklärten Gesellschaft. Es heisst nicht, dass es keine Fakten mehr gibt.

Das sei nämlich zunehmend zu beklagen, schreibt Eduard Käser in der ‹NZZ› in einem Artikel über das ‹postfaktische Zeitalter›. «In der digitalen Welt wird es schwieriger, zu überprüfen, was wahr ist und was nicht. Ein Permaregen von Informationen lässt uns fast nichts anderes übrig, als allmählich auf Standards wie Objektivität und Wahrheit zu verzichten. An die Stelle des Faktums tritt das Faktoid.» Das Beispiel dafür: Möchtegern-Autokrat Donald Trump. Die Factchecker von der ‹Washington Post› haben festgestellt, dass Trump in 85 Prozent aller Fälle nicht die Wahrheit sagt. Tony Schwartz, der Trumps Bestseller «The Art of the Deal» geschrieben hat, bezeichnete Trump gegenüber dem ‹New Yorker› als Soziopath, als pathologischen Lügner. Trump gilt aber bei seiner Anhängerschaft als ehrlich. Nicht weil das, was er sagt, wahr ist. Sondern weil er ausspricht, was ihm gerade durch den Kopf geht. Und sich dabei weder von Höflichkeit noch von politischer Korrektheit abhalten lässt. Wahrheit oder Lüge, das spielt bei ihm keine Rolle. Seine mangelnde zivilisatorische Affektkontrolle ist sein grösster Trumpf.

Auch Trumps Vize Mike Pence hält nicht so viel von der Wahrheit. Dabei gilt der Gouverneur aus Indiana als Trumps seriösere Hälfte. In der – mittlerweile vergessenen – Vizepräsidentschaftsdebatte stritt er allerdings jedes Mal, wenn er mit einer von Trumps Aussagen konfrontiert wurde, ganz einfach ab, dass Trump diese je gemacht hätte. Selbst wenn diese alle zigfach belegt wurden. Pence galt als Gewinner der Debatte.

Dass PolitikerInnen lügen, ist ja nichts Neues. Böse Zungen würden von weissen Schimmeln sprechen. Nur ist die klassische PolitikerInnenlüge meistens gar keine Lüge, sondern bloss die halbe Wahrheit. Etwas wird übertrieben, verschwiegen oder verdreht. Dass man wider besseren Wissens lügt, selbst wenn es einfach widerlegbar ist, ist eine doch eher neuere Erscheinung. Und sie ist auch gefährlich.

Mindestens bei Trump. Denn der behauptet jetzt, wo es in den Umfragen für ihn schlecht aussieht, dass die Wahlen manipuliert werden. Und dass in den Innenstädten (damit sind Quartiere gemeint, in denen vor allem Schwarze leben) oft zu massivem Wahlbetrug kommt. Das ist schlicht falsch. Viele Untersuchungen haben ergeben, dass eigentliche Wahlfälschung selten vorkommt. Wie aber Jamelle Bouie im Online-Magazin ‹Slate› und Ari Berman in der Zeitschrift ‹The Nation› aufgezeigt haben, gibt es hingegen viele Gesetze, vor allem in republikanischen Staaten, die darauf ausgelegt sind, Schwarze am Wählen zu hindern. Zum Beispiel dadurch, dass vorgeschrieben wird, dass WählerInnen einen Ausweis mit Foto vorweisen müssen wie einen Führerschein oder einen Pass, was viele ärmere Menschen nicht besitzen.  Und Trumps Worte werden geglaubt: Jüngste Umfragen zeigen, dass rund vierzig Prozent der AmerikanerInnen fürchten, dass die Wahlen gefälscht und manipuliert werden. Das ist brandgefährlich, weil eine Demokratie davon lebt, dass die VerliererInnen ein Resultat anerkennen.

Wenn Verschwörungstheorien und News auf der gleichen Stufe sind, dann drohe das Ende des Aufklärungszeitalters, gezielte Desinformation und ‹Bullshit› bedränge die Medien, so der deutsche Medienwissenschaftler Stephan Ruoss-Mohl in der ‹NZZ›. Allerdings machen die Medien oft mit: «Dabei spannen sie geschickt auch jene für sich ein, die bis anhin noch im Mehrheitskonsens der ‹Alternativlosigkeit› vermeintlich dagegenhalten, aber jede gezielte Provokation der neuen Rechten zu Top-News aufplustern, die allenfalls in einem Einspalter auf Seite 56 abgefeiert gehört hätten.»

All das klingt ein wenig alarmistisch und auch ein wenig kulturpessimistisch. Es ist nicht falsch und auch nicht schlecht, wenn Institutionen auch in Frage gestellt werden, wenn sie mit Kritik konfrontiert werden.  Der Muff von tausend Jahren ist aus den Talaren gelüftet worden, Autoritäten wurden vom Sockel gestürzt. Dank Google und Handy hat jeder jederzeit Zugang zu unerschöpflichen Informationsquellen. Demokratie wird nicht einfach mehr nur geglaubt. Sie muss deshalb umsomehr gelebt und gepflegt werden.

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