Extremist:innen

Als die SP Schweiz in ihrem Parteiprogramm 2010 wiederum die Überwindung des Kapitalismus zu einem ihrer expliziten Ziele erklärte, ging ein Raunen durch den Blätterwald. 1982, als die vorherige Fassung des Parteiprogramms formuliert wurde, gab es noch die Ostblock-Länder, in denen der Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus (angeblich) real existierte, aber 2010? Da war der Kapitalismus schon längst zum Normalfall geworden. Darüber muss man nicht mehr diskutieren, wer das Wort überhaupt noch in den Mund nimmt, outet sich damit schon als eine Art Extremist:in, oder? Und so fährt auch die SP seither in ihrem realpolitischen Handeln kaum einen forschen Überwindungskurs, und täte sie es, würde dies bestimmt Wähler:innenanteile kosten.

 

In ihrem Buch «Das Ende des Kapitalismus» (Kiepenheuer & Witsch 2022) analysiert die Historikerin und Philosophin Ulrike Herrmann die heutige Wirtschaft im Hinblick auf ihre Fähigkeit, das Problem des Klimawandels zu lösen. Ihr Fazit: sie kann das nicht. Der Kapitalismus benötigt permanentes Wachstum, Wachstum benötigt Energie, und diese lässt sich nicht in genügender Menge auf nachhaltige Weise produzieren, zumindest nicht mit den heute und in naher Zukunft verfügbaren Technologien. «Grünes Wachstum» ist also mit den uns bekannten Mitteln unmöglich, «grünes Schrumpfen» wäre angesagt. Der Kapitalismus verfügt jedoch über keine Werkzeuge zum Schrumpfen; er folgt, so Herrmann, der Logik einer Krebszelle, muss unaufhörlich wachsen und zerstört damit erst seine Umwelt und dann sich selbst: Will die Menschheit überleben, muss sie ihn abschaffen.

 

Die Erkenntnis über die zerstörerische Natur des Kapitalismus ist an sich nicht neu. Marx hat sie unter dem Titel «Landnahme» thematisiert (vgl. dazu z.B. Ina Müllers Kolumne vom 22. Dezember 2011 an dieser Stelle); man erinnere sich auch an Agent Smith aus dem Film «The Matrix», der den Menschen mit einem Virus gleichsetzt, das überall, wo es hinkommt, sämtliche Ressourcen aufbraucht und dann neue Gebiete erschliessen muss, um zu überleben (das vollständige Zitat findet sich in meinem PostScriptum vom 29. April 2022).

 

Derzeit verbraucht die Weltbevölkerung gemäss Wikipedia ungefähr das 1,75-fache von dem, was die Erde langfristig hergibt, und die Tendenz ist weiter steigend. Dass dies nicht nachhaltig ist, leuchtet ein, dafür muss man nicht Ökonomie studieren. Man muss nicht mal Herrmann und Marx lesen oder «The Matrix» schauen, an sich wissen es alle. Die Weltwirtschaft muss schrumpfen, sonst fährt sich die Menschheit gegen die Wand. Das bedeutet, dass die Überwindung des Kapitalismus keineswegs ein extremistisches Ziel ist, sondern eigentlich die Grundanforderung jeder Politik sein müsste – der Ausgangspunkt, um neue, nachhaltige Organisationsformen für Wirtschaft und Gesellschaft zu entwickeln.

 

Wer sind denn nun die Extremist:innen? Diejenigen, die den Kapitalismus überwinden wollen, um die Menschheit zu retten, oder die, die wider besseres Wissen an ihm festhalten und uns damit offenen Auges in den Abgrund führen? 

 

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