Experimente sind immer auch Grenzauslotungen

Formal forscht die 1937 in Ungarn geborene Künstlerin Dóra Maurer mit allen sie interessierenden Medien. Von Fotografie über Performance bis Druckgrafik und Malerei. In der «kleinen Retrospektive», die ihr Sabine Schaschl im Haus Konstruktiv ausrichtet, wird schnell augenscheinlich, wie sehr die meisten ihrer Arbeiten politisch wirken.

 

 

Der letzte Direktkontakt mit Kunst aus Ungarn ermöglichte ein Gastspiel der Tanzcompagnie «Hodworks» beim Festival «Yeah!Yeah!Yeah!» in der Roten Fabrik vor zwei Jahren. Ihr schmerzlicher Bühnenkommentar verhöhnte die Direktive einer obrigkeitlichen Definition dessen, was überhaupt als Kunst gilt, auf ungeschminkt raffinierte Art. Resterlaubt sind ‹das Wahre› und ‹das Schöne›. Siebzig Jahre zuvor – rund um den von den Sowjets jäh niedergerungenen Ungarnaufstand – absolvierte Dóra Maurer ihr Kunststudium in Budapest. Sehr viel Fantasie benötigt es nicht, um sich auch nur ungefähr auszumalen, wie ‹weit› gefasst die Grenzen des Sag- und Machbaren unter der jahrzehntelangen kommunistischen Einheitsvorstellung von Wertigkeit gewesen sein dürften. 1971 performt Dóra Maurer eine 1. Mai-Parade: Allein und drinnen geht sie so lange im Stechschritt im Kreis, bis eine Masse suggerierende Spur aus Fussabdrücken bleibendes Zeugnis davon abgibt. Auf den Papiergrund legt sie eine Holzplatte mit eingefärbtem Papiermaché, die rund einen Viertel der Fläche bedeckt. Was davon hervorsteht und auf ihrem Parademarschweg liegt, wird niedergetrampelt, und das Ergebnis der farbbeschmutzten Fusssohlen verschleppt sie, bis der gesamte Kreis als Manifest für die Ewigkeit (der Fotodokumentation) zurückbleibt. Ein Bekenntnis, sich als politische Person oder gar Künstlerin zu verstehen, erübrigt sich.

 

Die Vermessung der Frau

Aus demselben Jahr stammen auch Fotosequenzen, die hälftig mathematisch verspielt wirkend, hälftig als klandestine Kommunikationsmöglichkeit anmutend, Hände und Personen in Haltungen und Bewegungen zeigen, denen sie je einen Buchstaben des Alphabets zuordnet. Ein Schelm, wer dahinter eine potenzielle Blaupause für subversiven Austausch von Einzelnen im öffentlichen Raum vermutet. Es ist aber gleichzeitig auch das Experimentieren mit Mustern, womit sich der Kreis zur plastischen Kunst und/oder der Malerei schliesst. Der Pflasterstein in seinen kubistischen Dimensionen ist die dreidimensionale Entsprechung des Quadrates, also der boshaft symbolisierenden Zuschreibung der Konkreten Kunst. Handkehrum ist er (in der hierzulande üblichen, etwas kleineren Ausdehnung) auch Sinnbild für ein kostengünstiges Wurfgeschoss in der unfreundlichen Konfrontation mit einer gepanzert auftretenden Obrigkeit. Dóra Maurer verkehrt das alles in eine Bildabfolge möglicher fürsorglicher Umhätschelung eines ‹Bsetzisteis› und unterwandert damit zeitgleich die stereotype Rollenzuschreibung der Frau subversiv. Nicht zuletzt vermisst sie die Frau – in Standbildern, bevor sie laufen lernten, und andernorts sich selbst im Film – und stellt damit nicht bloss ein spielerisches Experiment dar, sondern stellt auch die Begrifflichkeit rund um den Komplex einer sogenannten Norm infrage (und die da­raus ableitbaren Konsequenzen).

 

X für ein U

In einer Serie von Kaltnadelradierungen auf Papier oder Stoff, meist in Form von geraden Linien, stellt sie um 1980 so lange serielle Drucke her, bis die Vorlage verschlissen ist und nurmehr Anspielungen einer ehemaligen Farbensattheit hinterlässt. Hier öffnet sich der Fragenkomplex einerseits in Richtung Original/Kopie, andererseits auch (wieder) hin zur Deutungshoheit bezüglich einer grundsätzlichen Definition von Kunst und darin auch noch einer weitgehenden Willkür von Wertung. Was sie andernorts wieder aufnimmt: Ist eine Frau, die ein weisses Laken im Film geometrisch zusammenlegt, eine Hausfrau oder eine konstruktiv-konstruktiv-kubistische Künstlerin? Das Kunstverständnis von Dóra Maurer ist mehrdimensional, um nicht zu sagen grenzenlos. Der Auftrag, ein Schlossgewölbe ‹auszumalen›, ist nicht minderwertiger als dieselbe methodisch-mathematische Ausführung von Farbfeldern auf einer Leinwand, und führt in der Folge zu einer Beschäftigung mit einer dynamisch dreidimensionalen Wirkung ihrer Gemälde. Die weitere, malerische Auseinandersetzung mit Durchlässigkeiten von Farben und ihre aktuelle Beschäftigung mit dem Buchstaben X kann ebenso als Experiment von Form und Farbe, als symbolhafte feministische Selbstermächtigung oder auch als künstlerische Umsetzung der Redewendung «ein X für ein U vormachen», also wiederum ein politisch konnotierter Kommentar zur Zeit interpretiert werden. Oder alles zeitgleich. In sich und über alle Mediengrenzen hinweg ist ihr Œuvre äussert stringent.

 

Dóra Maurer: «Minimal Movements – Shifts, 1970-2020», bis 12.9., Haus Konstruktiv, Zürich.

 

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