«Es gibt viel aufzuholen in der Rezeption von Frauen in der Kunst»

Am Dienstag startet mit der Online-Vernissage die Ausstellung «Sing-Song-Signs & Folded Stories», die sich der Grafikerin und Illustratorin Warja Lavater widmet. Die Ausstellung in der Zentralbibliothek Zürich hat Carol Ribi kuratiert. Was sie an Warja Lavater sosehr fasziniert, dass sie ihre Dissertation über sie schreibt, erklärt Carol Ribi im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Sie haben Ihr Lizentiat in Germanistik, Englischer Literaturwissenschaft und Ethnologie gemacht und schreiben nun eine Dissertation über die Künstlerin Warja Lavater. Sie sind auch die Kuratorin der Ausstellung «Sing-Song-Signs & Folded Stories», die ab kommender Woche in Zürich zu sehen ist. Sowohl hinter dem Dissertations- wie auch dem Ausstellungsprojekt hätte ich spontan eher eine Kunsthistorikerin vermutet.

Carol Ribi: Als künstlerische Leiterin des studentischen Projekts «Z(w)eitwissen» im Rahmen des 175-Jahr-Jubiläums der Universität Zürich arbeitete ich in den Jahren 2007 und 2008 mit Studierenden der Universität Zürich und der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) zusammen und erhielt so einen guten Einblick in die Kunst des Ausstellungsmachens. Wir realisierten unter anderem den Film «Wider den Stand der Dinge. Die Universität im Umbruch» (2008) zu den studentischen Bewegungen zwischen 1968 und 1980 und interviewten dafür mehrere ZeitzeugInnen. Ein Kollege, der Geschichte studierte, recherchierte die Fakten, während ich das Konzept für den Film schrieb, Regie führte und den Schnitt begleitete. 

 

Sie forschten 2011–2014 am Graduiertenkolleg «Schriftbildlichkeit» der Freien Universität (FU) Berlin: Wie kamen Sie auf die Idee, eine Dissertation über Warja Lavater zu scheiben?

Es war ein Zufall: Zum bestandenen Lizentiat schenkte mir meine Gotte «Leidenschaft und Vernunft» von Warja Lavater. Das Leporello passte perfekt zu dem, was bereits damals mein Lebensthema war, nämlich das Spannungsfeld zwischen den «Künsten» und den «Wissenschaften» auszuloten. Zur gleichen Zeit gab es eine Ausschreibung für Doktoriende am Graduiertenkolleg «Schriftbildlichkeit» der FU. Ich bewarb mich und wurde aufgenommen. So begann ich meine Forschungsarbeit zu Lavaters Symbolnotationen und Künstlerbüchern, die unter anderem mit Stipendien des SNF und der Alumni UZH unterstützt wurde.

 

Was muss man sich unter Warja Lavaters «Symbolnotationen» vorstellen?

In «Leidenschaft und Vernunft» beispielsweise werden zwei visuelle Elemente eingesetzt: eine rote, wilde Linie – sie steht für die «Leidenschaft» – und ein blaues Qua­drat, das für die «Vernunft» steht. Auf den Seiten des Faltbuches werden unterschiedliche Kombinationen dieser zwei visuellen Elemente verwendet und zu unterschiedlichen Ideogrammen gefügt. Jedes dieser rot-blauen Bilder stellt einen Begriff dar. Eine rote, freie Linie, die einen Kreis ums blaue Quadrat bildet, symbolisierte etwa die «Kultur». Ein blaues Quadrat, das sich flächig um die rote Linie der Leidenschaft herum ausbreitete und sie dadurch quasi einmauerte, visualisierte für Warja die «Ethik». Dieses System fand ich faszinierend.

 

Und Sie gingen ihm in Ihrer Dissertation auf den Grund?

Weil zu Lavater noch keine Publikationen erschienen waren, musste ich mir erst einmal die biographischen und zeitgeschichtlichen Zusammenhänge erarbeiten. Als ich mehr über die Schweizer Kunstszene der 1930er-Jahre wissen wollte, merkte ich, dass das nicht so einfach ist, denn es gibt kaum Literatur dazu. Bis auf ein paar einzelne herausragende Biographien haben wir die Geschichte unserer Kunstinstitutionen bisher vernachlässigt. Für den theoretischen Teil konnte ich indessen aus dem Vollen schöpfen. Lavaters Kunst liegt ja an der Grenze zwischen Literatur und bildender Kunst. Da kam mir zugute, dass ich Literaturwissenschaften studiert habe. Mein Wissen aus der Sprachphilosophie konnte ich beispielsweise nutzen, um den Zeichenbegriff in einem kunstgeschichtlichen Kontext neu zu definieren. Konkret geht es darum, dass wir Zeichen gemeinhin als durchsichtig behandeln, sprich, wir sehen direkt durch sie hindurch und nehmen nur den Sinn dahinter wahr. Lavaters Kunstwerke aber machen deutlich, dass die Zeichen selbst visuell wichtig sind, sie sind nie komplett abstrakt, sondern Bilder, die unsere Emotionen und Interpretationen spiegeln oder auch anregen. Die Fragen, die ich mich beschäftigten, waren: Wie funktioniert Lavaters Bilderschrift? Kommt sie ohne Lautsprache aus? Wie sind Erzählung und Bild verwoben? Wo kreuzen sich mündliches und schriftliches Erzählen im Bild? An der FU hat man mich sehr unterstützt und mich ermuntert, mein interdisziplinäres Projekt voranzutreiben. Jetzt hoffe ich, dass die Dissertation bald publiziert werden kann. Der Zeitpunkt ist sicher der richtige, zumal die von mir kuratierte Lavater-Ausstellung in der Zentralbibliothek Zürich anläuft.

 

Warja Lavater bezeichnete sich selbst als «Bildstellerin» – eine spannende Ansage.

Sie betonte damit den Übergang, wo Schrift zu Bild und Bild zu Schrift werden. In «Wilhelm Tell» (1962) beispielsweise werden alle Figuren aus der Legende in abstrakten geometrischen Figuren dargestellt. Es ist nicht mehr der gut aussehende Muskelprotz Tell, sondern nur noch ein blauer Kreis, der sich vor dem roten Dreieck – Gesslers Hut – nicht verbeugen will. Durch die neue Darstellungsweise bekommt die Legende eine neue Ausrichtung. Der Pathos fällt weg und es kommt wie eine Partitur daher. Ganz andere Elemente werden dadurch betont. Es stehen nicht mehr der Apfelschuss oder der Mord an Gessler im Vordergrund, sondern man nimmt die einzelnen Bildzeichen nebeneinander wahr und beginnt mit allen möglichen Interpretationen zu spielen. Eine dieser Interpretationen wäre, dass die Gründung der Eidgenossenschaft weniger mit dem Mord an einem Landvogt zu tun hat, als vielmehr mit den 3/4-Kreisen, die zu vollen Kreisen und damit zu vollwertigen, sprich gleichgestellten Bürgern geworden sind. Lavater studierte übrigens in den 1930er-Jahren an der Kunstgewerbeschule Zürich, die damals sehr progressiv und modern war.

 

Inwiefern?

Unter dem damaligen Leiter Alfred Altherr waren die zeitgenössische Moderne und das Bauhaus gleichermassen präsent, die Dozenten waren über den Werkbund vernetzt, und es gab einen regen Austausch mit dem Bauhaus in Weimar und Dessau, zumindest bis zum Kriegsausbruch. Natürlich prägte umgekehrt auch die Landesausstellung von 1939 sowohl die Gesellschaft als auch die Kunst, vielerorts wehte der berühmte Landigeist. Die Zeit vor dem Krieg mit jener danach zu verbinden, war in der Schweiz jedoch viel weniger ein Thema als in Deutschland, wo die Zeit des Nationalsozialismus und der Krieg ein bis heute klaffendes Loch ins kulturelle Erbe gerissen haben. Dies hat mir vor Augen geführt, welch grossen Wissenslücken wir in der Schweiz haben.

 

Wie meinen Sie das?

Wir sind uns unserer kulturellen Geschichte zu wenig bewusst. Ausser Jubiläumsausstellungen gibt es nicht viel dazu zu sehen. Typisch für die Schweiz ist auch, dass viele Nachlässe von Künstlerinnen und Künstlern in privater Hand sind, sprich, man findet eventuell etwas auf einem Estrich, aber möglicherweise haben die Nachkommen auch schon alles weggeworfen. Das ist in Deutschland anders: Dort werden Archive unterhalten und betreut. Zum Thema Bauhaus beispielsweise werden alle erfasst, die auch nur am Rande mal etwas damit zu tun hatten. An der ZHdK jedoch findet man nicht viel aus den 1930er-Jahren, denn damals zog man in den Neubau um – und warf deshalb vieles einfach weg.

 

Ist das der Grund, weshalb das Interesse an Warja Lavater und ihrem Werk nicht grösser ist?

Das spielt sicher eine Rolle. Das Interesse wird jedoch seit fünf, sechs Jahren grösser, Warja ist in dieser Zeit gewissermassen an die Oberfläche geschwommen: Als ich 2013 in der Zentralbibliothek Zürich einen Vortrag über sie hielt, kamen 80 ZuhörerInnen. Meine Art, mich Warjas Kunst anzunähern, stiess auf offene Ohren: Warja arbeitete interdisziplinär, und auch meine Forschung ist interdisziplinär angelegt. Ich denke, dass sie und ihre Kunst in nächster Zeit noch breiter bekannt werden.

 

Dennoch: Ihr Mann, der Maler Gottfried Honegger, ist als einer der Zürcher ‹Konkreten› viel bekannter als sie, und das, obwohl sie durchaus ‹prominente› Aufträge hatte und etwa das Logo mit den drei Schlüsseln des früheren Bankvereins, heute UBS, entwarf.

Es ist in mehrerer Hinsicht ein strukturelles Problem. Auch wenn Lavaters Beitrag für die SAFFA 1958 sie bekanntheitsmässig kurzfristig nach oben gespült hat, verfügte sie in der Schweiz über keine Basis, um sich künstlerisch zu entfalten: Sie brauchte ihre Dépendance in New York und später in Paris, um hier angefragt zu werden und 1990 den kantonalen Kunstpreis zu erhalten. Bekanntheit ist zudem stets eine auf die individuelle Biographie abgestützte Grösse. Männer mit grosser Klappe wie Honegger, Hans Arp oder Max Bill haben es geschafft, aber selbst sie wurden zuerst im Ausland bekannt und erst danach in der Schweiz. Auch ist es bis heute eher selten, dass an hiesigen Unis eine Dissertation über eine Schweizer Künstlerin geschrieben wird. Es gibt allgemein viel aufzuholen in der Rezeption von Frauen in der Kunst.

 

1958 zogen Gottfried Honegger und Warja Lavater für zwei Jahre nach New York: Die Firma Geigy AG hatte ihn als Chefgrafiker zur Überarbeitung ihres Firmenauftritts engagiert. Warja Lavater soll künstlerisch sehr von diesem temporären Ortswechsel profitiert haben: Was war der Grund dafür?

Sie war fasziniert von den riesigen Autostrassen, den Verkehrsampeln und vor allem davon, wie Lichtsignale einen derart grossen Einfluss haben können: Bei Rot steht alles still, bei Grün rollt der Verkehr wieder an. Ein einziger kleiner Farbwechsel steuert den ganzen Verkehr und damit das Verhalten einer ganzen Menschenmenge. Selbst die Leuchtreklame auf den Boulevards war ein neues Phänomen für sie, das Schrift in den öffentlichen Raum stellte. In Zürich gab es sowas nicht bis in die 1950er-Jahre. Für die damals 45-jährige Künstlerin musste es Schock und Inspiration zugleich gewesen sein. Die Beobachtung, dass grafische Zeichen mit Handlungen verbunden werden können, führte dazu, dass sie ihre Bilderschrift erfand. Rückblickend ist es natürlich auch ihre bauhausnahe Ausbildung, die sie in dem Denken bestärkt hat. Schon bei Kandinsky findet sich der Gedanke, dass ein vom textuellen Ganzen losgelöster Punkt über einen bildlichen Klang verfügt und alleine ausreicht, um ein Bild zu werden. Die Verbindung zur modernen Typographie liegt dabei auf der Hand. So ist ihr erstes Leporello «Rotkäppchen» nur in farbigen Punkten gestaltet. Wie auf einem Filmstreifen zeigt das Faltbuch Szene für Szene. 

 

Welches sind die Highlights der Ausstellung in der Zentralbibliothek?

Im Fokus stehen Warja Lavaters Künstlerbücher und – wie der Titel «Sing-Song-Signs» andeutet – das Konzept der Bilderschrift. Darüber hinaus zeigen wir Arbeiten aus den frühen Jahren sowie Gebrauchsgrafiken. Um aufzuzeigen, was für ein Potenzial ihre Werke bis heute haben, luden wir Game-DesignerInnen der ZHdK im 3. Semester ein, um in Auseinandersetzung mit Lavaters Werken Spiele zu kreieren. Die Spiele sind auch online abrufbar. 

 

Warja Lavater 1913 – 2007. Sing-Song-Signs & Folded Stories. Online-Vernissage am Dienstag, 2. März um 18.15 Uhr via Zoom, Ausstellung vom 3. März bis am 19. Juni in der Schatzkammer der Zentralbibliothek Zürich. Öffnungszeiten und weitere Infos siehe zb.uzh.ch/de/exhibits/warja-lavater

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