«Es geht am Frauenkampftag nicht um das Verteilen von fucking Rosen an der Migroskasse»

Pünktlich zum internationalen Frauenkampftag stellen die frisch (wieder)gewählten Co-Präsidentinnen der SP Frauen, Tamara Funiciello und Mathilde Mottet im Gespräch mit Tim Haag klar, was sie wollen: Geld, Zeit, Respekt.

Frau Mottet, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl. Diese hat ja für einiges Aufsehen gesorgt, insbesondere im Hinblick auf bestimmte provokative Aktionen – etwa, dass Sie auf einem Instagram-Post der Schweizer Flagge den Mittelfinger zeigen. Glauben Sie, dass Ihnen diese Art von Publicity bei der Wahl geholfen hat?

Mathilde Mottet: Ehrlich gesagt, nein. Die Leute, die mich gewählt haben, kennen mich besser als das Bild, das die Medien manchmal von mir zeichnen. Sie wissen, dass ich viel mehr kann als nur provozieren. Die kennen meine Arbeitsweise, wie ich zuhöre und Ideen bringe. Genau darum haben sie mich gewählt. Manchmal ist Provokation nötig. Aber ich hoffe, dass ich in Zukunft nicht mehr provozieren muss, um gehört zu werden. 

Wie verknüpfen Sie provokative Aktionen wie den antipatriotischen Mittelfinger mit dem Kampf für feministische Ziele?

M. M.: Provokation ist für mich ein Werkzeug, um auf Ungleichheiten aufmerksam zu machen, die wir in diesem Land bekämpfen wollen. Die Diskussion über die ungerechte Migrationspolitik hierzulande zu entfachen, aber auch die Diskussion über Gewalt an Frauen, sei sie physisch, psychologisch oder ökonomisch. Es macht mich hässig, dass so viele Menschen in der Schweiz noch nicht  ein anständiges Leben haben. 

Sie treten in die Fussstapfen von Martine Docourt. Was werden Sie ihr nachmachen – und was unterscheidet Sie?

M. M.: Der Feminismus ist ein Weg, und mit jeder Generation von Feministinnen, jedem gewonnenen Kampf oder jeder Person, die für die Sache gewonnen wird, machen wir einen Schritt weiter in Richtung feministischer Revolution. Ich bin Martine sehr dankbar für alles, was sie geleistet hat. Sie hat die SP Frauen gestärkt, und mein Ziel ist es jetzt, mit dem frischen, jungen Wind, den ich mitbringe, die Partei noch stärker zu machen. esonders am Herzen liegt mir, unsere Bildungsarbeit unter den Mitgliedern auszubauen.

Frau Funiciello, Sie haben nun schon eine Amtszeit bei den SP Frauen auf dem Buckel. Wie schauen Sie auf die letzten vier Jahre zurück?

Tamara Funiciello: In den letzten Jahren haben die SP Frauen an Sichtbarkeit und Relevanz gewonnen, getragen durch den feministischen Streik. Unsere Organisation hat starken Zulauf, besonders von jungen Frauen, erhalten, und diese junge Welle wird jetzt im Co-Präsidium durch Mathilde Mottet repräsentiert. Durch die feministische Bewegung bin ich ins Bundeshaus gekommen, und es ist ermutigend zu sehen, wie noch jüngere Unterstützerinnen nun führende Rollen übernehmen. Wir haben wichtige Erfolge wie die Revision des Sexualstrafrechts oder die Einreichung der Kita-Initiative erzielt und nicht zu vergessen: Die Wut der Schweizer Frauen über die Erhöhung des Rentenalters vor zwei Jahren hat den Boden gelegt für den Sieg in der 13. AHV-Rente. 

Als nächstes steht für die SP Frauen eine Kampagne zur Arbeitszeitreduktion für Frauen an. Wieso?

T. F.:  Geld, Zeit und Respekt – das fordern wir. Eine Reduktion der Arbeitszeit ist aus feministischer Sicht essenziell, denn es geht darum, Carearbeit endlich als das zu erkennen, was sie ist: Arbeit. Schaut man sich die Situation realistisch an, kommt man nicht umhin festzustellen, dass die Erwerbsarbeit reduziert werden muss, um Carearbeit gerechter zu verteilen. 

Es gäbe doch auch die Möglichkeit, Carearbeit zu bezahlen.

T. F.: Die Idee, Carearbeit vollumfänglich zu bezahlen, ist finanziell nicht umsetzbar – gemäss «Économie Feministe» sprechen wir von Kosten in der Grössenordnung von rund 250 Milliarden Franken jährlich. Dann wäre da noch die Möglichkeit, die Carearbeit im Paar gleich aufzuteilen. Männer und Frauen arbeiten stundenmässig gleich viel – Frauen verdienen aber rund 100 Milliarden weniger, weil ein grosser Teil ihrer Arbeit unbezahlt ist. Nun zu sagen: «Männer, übernehmt mehr», ist unrealistisch und ungerecht, denn sie arbeiten schon sehr viel – mit Kindern rund 70 Stunden pro Woche. Das heisst, es ist nur möglich, Carearbeit anders aufzuteilen, wenn Teilzeit gearbeitet werden kann oder Carearbeit ausgelagert wird an Kitas, Reinigungspersonal oder Grosseltern – das können sich aber nicht alle leisten und heisst, dass Gleichstellung eine Frage des Portemonnaies ist. Die bestehende Lohnungleichheit, bedingt durch Diskriminierung, aber auch durch die systematische Abwertung von typisch weiblichen Berufen, verschärft traditionelle Rollenbilder. Ökonomisch macht es Sinn, dass die Person mit dem höheren Einkommen mehr arbeitet – was heute dazu führt, dass 60 Prozent der Mütter von ihrem Partner abhängig sind. Und damit wären wir bei der Arbeitszeitreduktion als beste Lösung, um Carearbeit aufzuwerten und die Gleichstellung voranzutreiben. Es zeigt zudem, dass der Arbeitskampf nur feministisch sein kann. Ohne diese Perspektive bleibt die Diskussion unvollständig und hinterwäldlerisch, sorry.

Wie sehen die Forderungen und Ziele der Kampagne konkret aus?

T. F.: Wir streben eine Arbeitszeitreduktion auf 35 Stunden pro Woche an und fordern eine Elternzeit, die diesen Namen verdient. Die Kosten, die durch Burnouts entstehen, belaufen sich in der Schweiz auf mindestens 9 Milliarden jährlich. Das verdeutlicht, dass finanzielle Mittel vorhanden sind, um eine Arbeitszeitreduktion zu finanzieren – und es auch gesund wäre für unsere Gesellschaft. Gleichzeitig ist es absurd, dass wir trotz technologischer Fortschritte immer noch genauso lange arbeiten wie vor Jahrzehnten. Unsere Gesellschaft sollte Zugang zu den Gewinnen aus gesteigerter Produktivität haben.

M. M.: Neben den feministischen Argumenten sehen wir in der Arbeitszeitverkürzung auch eine Antwort auf ökologische Herausforderungen. Weniger zu arbeiten bedeutet auch, weniger zu produzieren und mehr vom Leben zu profitieren. Die Klimakrise kann nur gelöst werden, wenn wir aufhören, so viel für die Gewinne der Unternehmensleitungen zu produzieren. Modelle wie die Viertagewoche, die in Europa bereits erprobt und beliebt sind, verbessern die Lebensqualität, ohne dass auf Einkommen verzichtet werden muss.

Wie entgegnen Sie der Kritik, dass eine Arbeitszeitreduktion einer künstlichen Deckelung der Produktivität gleichkäme?

M. M.: Produktivität wird berechnet, indem man die Produktion durch die Arbeitszeit teilt. Wenn wir weniger produzieren und weniger arbeiten, bleibt das Verhältnis unverändert. Die Produktivität kann sogar steigen, weil wir sinnvoller produzieren können. Zudem gewinnen die Menschen Zeit, die sie für ihre persönliche Entfaltung nützen können. Es ist keine künstliche Deckelung, sondern eher eine Art Rückzahlung an die Gesellschaft.

T. F.: Die Frage ist, wie die Arbeitszeitreduktion umgesetzt wird. Eine Arbeitszeitverkürzung bei gleichbleibendem Lohn nur für mittlere und niedrigere Einkommen hätte laut einer Studie der Universität Bern auch positive Auswirkungen auf das Klima, weil hohe Einkommen einen besonders grossen Fussabdruck haben. Nach dem Motto: Yachten braucht niemand.

M. M.: Das unterstreicht, wie feministische Politik der ganzen Gesellschaft nützt. Was Frauen hilft, kommt allen zugute. 

Nicht nur Carearbeit, sondern auch Sexarbeit ist für die SP Frauen Arbeit, wie Sie kürzlich in einem Positionspapier klargestellt haben. Wieso ist das Thema gerade jetzt aktuell?

M. M.: Unsere Haltung ist klar: Wir wollen Sexarbeiter:innen schützen, Punkt. Wir sind nicht für oder gegen Sexarbeit, wir sind gegen Kapitalismus. Wer im Kapitalismus essen will, muss arbeiten – ausser, man gehört zur Bourgeoisie. Sexarbeit ist oft eine der zugänglichsten Arbeiten, besonders für Menschen, die diskriminiert werden oder weniger Rechte haben. Deshalb gibt es so viele Migrant:innen in diesem Bereich in der Schweiz. Wir wollen, dass alle Arbeitskräfte, speziell Sexarbeiter:innen, gute Arbeitsbedingungen haben, damit sie geschützt sind. Unsere Position orientiert sich an Procoré, der Berufsorganisation von Sexarbeiter:innen in der Schweiz. Sexarbeit ist nicht einfach eine Arbeit wie jede andere. Sie ist oft viel herausfordernder und steht dort, wo Rassismus und Realität am deutlichsten sind. Es sind häufig Menschen in prekären Verhältnissen, die sich für Sexarbeit entscheiden. Wir kämpfen nicht gegen Sexarbeit, sondern gegen das Prekarität, Armut und Rassismus. 

Ist für Sie das Nordische Modell, also die Freierbestrafung, eine Lösung?

M. M.:Wir glauben nicht, dass die Kriminalisierung der Kund:innen von Sexarbeiter:innen die Lösung ist, denn es macht das Leben für Sexarbeiter:innen nur noch unsicherer. Was wir brauchen, sind bessere Arbeitsbedingungen und Zugänge zum Arbeitsmarkt für alle, besonders für Migrant:innen, die in der Sexarbeit tätig sind. 

Innerparteilich haben Sie einen Konsens gefunden. Ausserparteilich gibt es zur Sexarbeit aber noch ziemlich entgegengesetzte, teils auch vermeintlich feministische Meinungen, zum Beispiel, dass man Sexarbeiter:innen mit einem Verbot schützen würde, auch «vor sich selbst».

T. F.:  Wenn Leute sagen, sie wollen Sexarbeiter:innen schützen, dann müssen wir uns hinsetzen und rational analysieren, was tatsächlich hilft. Wir setzen uns mit vollem Herzen für den Schutz aller Frauen ein. Wenn das Verbot von Sexarbeit den Frauen helfen würde, würden wir das unterstützen. Aber das tut es nicht, es treibt sie in die Illegalität. Wir müssen informiert sein über die tatsächlichen Auswirkungen und nicht aus einer paternalistischen Haltung heraus handeln. Ich finde es persönlich verrückt, dass Menschen Fallschirmspringen, aber deshalb würde ich das niemandem verbieten wollen. Warum sollte das bei Sexarbeit anders sein? Alle Menschen sind mündig, ausser es geht um Sexarbeit? Menschenhandel ist ein echtes Problem, aber das Verbot von Sexarbeit löst dieses Problem nicht. Menschenhandel existiert auch auf dem Bau oder im Gastgebewerbe.

Am 8. Mai ist der internationale Frauentag…

T. F.: Frauenkampftag.

…der internationale Frauenkampftag. Warum ist der Kampf wichtig?

T. F.: Am Internationalen Frauenkampftag erinnern wir uns daran, dass mutige Frauen in einer US-amerikanischen Fabrik eingesperrt und dann verbrannt wurden, weil sie sich gegen ihre Arbeitsbedingungen aufgelehnt haben. Dass Frauen Gewalt erleben von der Geburt bis zum Tod, weil sie Frauen sind. Es geht nicht um das Verteilen von fucking Rosen an der Migroskasse, sondern darum, zu erinnern, dass Frauen für unsere Rechte gekämpft und dafür mit ihrem Leben bezahlt haben. Wir fordern an diesem Tag das Recht, von unserem Lohn leben zu können, unabhängig zu sein, ein Leben zu haben, dass frei von Gewalt und Diskriminierung ist. Der Frauenkampftag steht für Solidarität, er erinnert uns daran, nie zu schweigen, und Ungerechtigkeiten zu bekämpfen und zu verhindern.

Welche Botschaft haben Sie zum Frauenkampftag an die Frauen in der Schweiz?

M. M.:  Eure Wut ist legitim und ihr seid nicht allein damit. 

T. F.: Kämpft zusammen für das, was euch zusteht. Die Diskriminierung von FLINTA-Personen ist statistische Evidenz und wer etwas anderes sagt, ignoriert die Realität. Die Lohnungleichheit, Abhängigkeit von Partnern, Femizide, sexuelle Übergriffe – all diese Statistiken sprechen eine klare Sprache. Wir erleben gerade einen massiven Rückschritt und müssen dagegenhalten. Es gibt eine ganze Welt zu gewinnen. Und wenn es den Frauen besser geht, profitiert die gesamte Gesellschaft. 

M. M.:Wir sind Teil einer langen Tradition des Feminismus, und wir setzen den Kampf fort. Es gab Millionen von Feministinnen vor uns, und wir setzen ihren Kampf fort, bis wir gewinnen. Ich bin sicher, dass wir gewinnen werden, denn wir sind auf der richtigen Seite der Geschichte. Wir kämpfen für die Kassiererinnen in der Migros, wir kämpfen für die Angestellten in der Bank. Und wir werden kämpfen, bis alle frei sind.

Wie sieht Ihr Programm am 8. März aus?

T. F.: Ich bin im Bundeshaus mit Eva Herzog und dann an der Demo in Bern.

M. M.: Ich werde demonstrieren am Abend. Und dann feiern.

T. F.: Ich auch. Weil: Wir Frauen arbeiten so viel und feiern viel zu wenig.

Und nach dem 8. März: Was muss bis zum Ende Ihrer Amtszeit passiert sein, damit Sie sagen können: «Diese vier Jahre waren ein Erfolg»?

T. F.: Die Kita-Initiative wurde angenommen, wir haben die Finanzierung der Arbeit gegen geschlechterspezifische Gewalt gesichert und die Arbeitszeit reell verkürzt.

M. M.: Und wir haben eine Umlagerung der zweiten Säule in die AHV garantieren können. 

T. F.: Geld, Zeit, Respekt.

Das kam ja wie aus der Pistole geschossen.

M. M.: Wir wissen, was wir wollen.

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