Die überforderte Generation

Die städtische Befragung zur Gesundheit von Schüler:innen bringt besorgniserregende Entwicklungen zutage. Dagmar Pauli, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich ordnet sie ein.

Generell gehe es den Jugendlichen von heute gut, steht auf der ersten Folie der Power-Point-Präsentation, die Filippo Leutenegger, Vorsteher des Schul- und Sportdepartements, am Dienstag der versammelten Presse vorstellte. Gemäss der Ende 2022 durchgeführten Befragung aller Stadtzürcher 2.-Sekler:innen bewegen diese sich ausreichend, gesunde Ernährung ist wichtiger geworden, der Konsum von Nikotin, Alkohol und Cannabis rückläufig. Alles paletti bei den Jugendlichen also? Im Gegenteil, wie der Rest der Zahlen zeigt – vor allem bei den Mädchen nicht: 30 Prozent aller Teilnehmerinnen der Befragung haben Anzeichen für eine Angststörung. Vor fünf Jahren waren es noch 21 Prozent, vor zehn Jahren 19 Prozent. Bei den Knaben ist diese Zahl in den letzten zehn Jahren konstant bei 12 bis 13 Prozent geblieben. Während sich vor fünf Jahren 40 Prozent der befragten Mädchen auf dem Schulweg «sehr sicher» gefühlt haben, sind es heute noch 22 Prozent. In der Schule fühlen sich nur noch ein Fünftel der Mädchen «sehr sicher», in der letzten Befragung waren es doppelt so viele. Analog ist das Vertrauen in Lehrpersonen gesunken (von 67 auf 50 Prozent) und die Zahlen der Schüler:innen, die angegeben haben, eine oder mehrere Unterrichtsstunden (zehn Prozent) beziehungsweise einen ganzen Schultag (sieben Prozent) geschwänzt zu haben, hat sich verdoppelt. Die Zufriedenheit der Zürcher Sekundarschüler:innen mit dem «Leben insgesamt» und mit «sich selber» sinkt seit der ersten Befragung im Jahr 2007 konstant. Der Trend ist besorgniserregend. Das findet auch Dagmar Pauli, Chefärztin und stellvertretende Direktorin bei der psychiatrischen Uniklinik Zürich. P.S. hat bei ihr nachgefragt.

Frau Pauli, sind Sie von den Resultaten der städtischen Befragung zur Gesundheit der Schüler:innen überrascht?

Nein. Es handelt sich dabei um langfristige Entwicklungen, die wir schon länger verfolgen. Es ist wichtig, diese Trends nicht zu dramatisieren. Trotzdem muss man anerkennen, dass die subjektive Belastung der Jugendlichen in den letzten Jahren zugenommen hat. Offensichtlich ist es so, dass nach innen gerichtete Symptome wie Angst, Depression, Überforderung, Einsamkeit oder fehlende Selbstwirksamkeit die junge Generation mehr beschäftigen als die Generationen zuvor. Diese hatten ihre eigenen Jugendkrisen – in meiner Jugend war es beispielsweise die Drogenkrise.»

Worin unterscheiden sich denn die Anforderungen an die heutige Jugend von denen an die Jugend von früher?

Ich denke nicht, dass sich die Schule oder das Umfeld der Jungen im Vergleich zu vor zehn Jahren so stark verändert hat. Andererseits findet eine Beschleunigung des Alltags statt, die bei den Jugendlichen am grössten ist. Es gibt immer mehr Möglichkeiten und Chancen – das ist ja eigentlich eine gute Sache – aber damit verbunden auch immer mehr Druck, und ein Teil der Gesellschaft kann diesem Druck nicht standhalten. Deshalb steigen auch die IV-Berentungen und die Zahlen von psychischen Krankheiten bei den jungen Menschen. Diesen Trend kann man übrigens auch bei den Erwachsenen beobachten, offenbar sind Jugendliche bei diesen Entwicklungen aber vulnerabler.

Warum trifft es gemäss der Befragung die Mädchen härter als die Knaben?

Erstens ist das Körperbild bei weiblichen Jugendlichen noch immer viel schlechter als bei männlichen und der Vergleichsdruck, zum Beispiel in den sozialen Medien, ist höher. Besondere Sorgen bereitet mir, dass junge Frauen deutlich weniger zufrieden sind mit ihrem Aussehen als in früheren Befragungen, obwohl das Problem des «zu dick seins» etwas zurückgegangen ist. Dieses Gefühl des nicht schön seins, nicht gut seins, nicht richtig seins ist beim weiblichen Geschlecht viel stärker ausgeprägt. Zweitens ist gemäss der Befragung der Schuldruck auf dem Sorgenbarometer bei allen Geschlechtern an oberster Stelle, wird aber von Mädchen ernster genommen als von Knaben – weil Mädchen noch immer so sozialisiert sind, dass sie meinen, stets allen An- und Herausforderungen gerecht werden zu müssen. Wenn sie das nicht tun, reagieren sie eher mit psychischen Symptomen, trauen sich zum Beispiel nicht in den Unterricht. Knaben externalisieren das eher und verkraften es deshalb auch eher, mal die Anforderungen nicht zu erfüllen. Und drittens liegt vielleicht eine mögliche Erklärung dafür, wieso Mädchen gemäss der Befragung stärker betroffen sind, darin, dass Mädchen eher zeigen, wenn sie psychische Probleme haben und eher darüber sprechen. Natürlich sind das aber nur generalisierte Gruppenunterschiede. 

Wo müssen wir denn ansetzen, wenn wir gegen diese Probleme vorgehen wollen?

Auf der einen Seite liegt es meiner Meinung nach an den Schulen, herauszufinden, warum der subjektive Schuldruck so viel grösser geworden ist, obwohl der objektive Schuldruck auf einem ähnlichen Niveau wie vor zehn Jahren geblieben ist. Dafür braucht es mehr Untersuchungen zum Thema in den Schulen. Eine mir bekannte Kantonsschule hat zum Beispiel mit Schüler:innen und Eltern Befragungen zu Schuldruck und Lernverhalten durchgeführt und leitet daraus jetzt Massnahmen ab.

Es gäbe ja als naheliegende Erklärung das Klischee, dass die Jugend von heute einfach verweichlicht ist.

Gegen diese These spricht, dass Burnouts, Depressionen oder die Zahl der IV-Bezüger:innen auch im Erwachsenenbereich zugenommen haben. Auch hier liegt es daran, dass die Menge an Anforderungen und Informationen exponentiell gestiegen ist. Anstatt die Jungen ‹abhärten› zu wollen, sollten wir uns als Gesellschaft überlegen, wie wir etwas Tempo rausnehmen können.

Welche Handlungsmöglichkeiten, abgesehen von schulischen, sehen Sie noch?

Im Bezug auf Körperformen, Aussehen und Selbstbild braucht es mehr und vor allem frühzeitigere Prävention. Die Sorgen über die eigene Figur fangen vor allem bei Mädchen heute schon mit zehn oder elf Jahren an. Ein anderer Forschungszweig, den ich als wichtig erachte, sind Bewältigungsstrategien. Die Angst, die heute ein Drittel der 14-jährigen Mädchen verspürt, ist eine Variante der Vermeidung von Anforderungen. Die Frage ist also, wie man schon im Kindergarten und der Primarschule Bewältigungskompetenzen fördern kann, damit die späteren Jugendlichen bei Problemen nicht mit Angst, Rückzug und Vermeidung reagieren.

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