Die Täter und Mitwisser des Klerus

Es ist ein Novum, dass ein unabhängiges Forschungsteam grossflächig Zugang zu kirchlichen Archiven bekommt – wenn auch durch die Kirche beauftragt. Die Universität Zürich legt einen markerschütternden Bericht vor, der das Ausmass des sexuellen Missbrauchs durch katholische Geistliche sowie dessen Vertuschung belegt. Am Montag lud die UZH zusammen mit Vertreter:innen der katholischen Gemeinschaft und den Betroffenenverbänden zur Medienkonferenz.

Renata Asal-Steger, Vertreterin der schweizerischen römisch-katholischen Zentralkonferenz (RKZ), befand konsterniert: «Was heute der Öffentlichkeit präsentiert wird, beschäftigt uns schon lange, bedrückt und beschämt uns.» Es sei schon viel geredet worden, zur Rechenschaft gezogen worden seien die Sexualstraftäter in der geistlichen Sphäre aber nicht. Die Tatsachen, die im Rahmen des Pilotprojekts zur historischen Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Umfeld der katholischen Kirche nun ans Licht kämen, seien von Mitwissern bei Führungskräften lange unter dem Deckel gehalten worden – weil es ihre jeweiligen Institutionen in Verruf bringen würde. Die RKZ sei deshalb dankbar um diesen Tag – er sei eine Folge von gemeinsamen Bestrebungen der RKZ, der Schweizerischen Bischofskonferenz SBK und der Konferenz der Ordensvereinigungen des gottgeweihten Lebens Kovos, den Missbrauch wissenschaftlich erforschen zu lassen: «Nachdem wir so lange versagt haben, uns diesem Thema zu stellen, soll nun alles auf den Tisch. Und zwar schonungslos», so Renata Asal-Steger. Die Kirche hat dazu die UZH mit dieser einjährigen Studie beauftragt.

Nur die Spitze des Eisbergs

Das, was die Historiker:innen der UZH um Marietta Meier und Monika Dommann nun aber auftischten, war erschütternd und gleichzeitig nur die Spitze des Eisberg, wie allen klar war. Die Forscher:innen hatten Zugang zu rund zwei Dutzend Archiven kirchlicher Institutionen und verorteten allein darin 1002 dokumentierte Fälle sexuellen Missbrauchs. Sie machten diesbezüglich 510 Beschuldigte und 921 Betroffene aus, wobei bei 361 Beschuldigten ein einmaliger Missbrauch, bei 149 Beschuldigten mehrfacher Missbrauch in den Quellen dokumentiert wird. Der Forschungszeitraum beschränkt sich von ca. 1950 bis heute. Die Beschuldigten sind fast ausnahmslos Männer (weshalb hier nur von Tätern die Rede ist), in rund 74 Prozent der Fälle geht es um sexuellen Missbrauch an Kindern verschiedenster Altersklassen, bei 14 Prozent an Erwachsenen – die restlichen Fälle lassen keine nähere Identifikation des Alters zu. Betroffene wurden in 56 Prozent der Fälle als männlich identifiziert, 39 Prozent als weiblich. Das ist nur die Spitze des Eisbergs – weil nicht in allen angefragten Archiven Zugang gewährt wurde, ebenso ist mit Lücken zu rechnen, ganz abgesehen davon, dass nur ein kleiner Teil der Missbrauchsfälle gemeldet respektive dokumentiert wird. Merke: Es geht hier um Missbräuche durch Personen im Umfeld der Kirche, die der Kirche gemeldet werden – man mag sich die Dunkelziffer gar nicht ausmalen. Auch Aktenvernichtung, ob gezielt oder nicht, erschwert die Forschung. 

Nun ist dieses Thema kein Neues und ebenso nicht, dass die katholische Kirche tief verwurzelte, strukturelle Probleme in Sachen Gewalt und Übergriffen nur ungern wahrhaben will. Bei den anwesenden Vertreter:innen der katholischen Kirche allerdings schon. Die Kirche hätte sich dem Zugriff der Justiz zu oft entzogen und die Mischung aus spiritueller und physischer Manipiulation sei bei den Tätern typisch. Es gebe ein grundlegendes Kulturproblem, das auch mit kirchlichen Traditionen zusammenhängt. Kurz: Die katholisch-kirchliche Kultur kann die Augen nicht mehr vor ihren Abgründen verschliessen. Bislang war im Rahmen von aufgedeckten Kindesmissbräuchen durch Geistliche meist von «Einzelfällen» die Rede. Das ist nun nicht mehr möglich, weil der Bericht offenlegt, dass während der gesamten Untersuchungsperiode Kenntnis von Missbrauchsfällen vorhanden war – meist auch bei Führungskräften, die die Täter im Anschluss gedeckt, sie zur Wogenglättung ins Ausland oder andere Regionen in der Schweiz versetzt oder gar durch etwa Aktenvernichtung den Missbrauch komplett vertuscht haben. Zudem würden Straf- oder Disziplinarmassnahmen nach Kirchenrecht fast nie in die Praxis umgesetzt. So blieben die Übergriffe für die Täter in der Regel ohne Folgen – geschützt würden die Täter und die Verantwortungsträger, nicht die Betroffenen. Die Ergebnisse haben aber auch dazu geführt, dass die hiesigen religiösen Organisationen die Aufarbeitung nun richtig machen wollen – weshalb das Forschungsteam für weitere drei Jahre für eine Nachfolgestudie verpflichtet wurde. 

Darin geht es um die Aktenauswertung weiterer Archive, um die katholischen Spezifika dieses Systems in Bezug auf die Missbräuche – also wie steht es um das Verhältnis der Kirche zu diesen Machtstrukturen, zum Umgang mit Sexualität oder dem Zölibat, aber auch der ambivalenten Stellung zur Homosexualität, was haben zementierte Geschlechterrollen im Klerus damit zu tun und so weiter – und auch um die internationale Dimension des Missbrauchs. Auch die Frage nach einer Mitschuld bei staatlichen Institutionen drängt sich auf, wenn pädagogische Kompetenzen an die Kirche abdelegiert werden. Und auch die fehlende Gewaltentrennung wird sicherlich zum Thema – was man bei der hiesigen katholischen Gemeinschaft bereits eingesehen, oder zumindest als Kritik angenommen hat. Veränderung in der Kirche geschieht nur mit Druck von aussen, so Studienleiterin Marietta Meier in einem Interview mit ‹kath.ch›. 

Von innen geschieht sie durch Kooperation, was die hiesige katholische Gemeinschaft umgehend garantieren will. Die Aufarbeitung bedingt den Zugang zu weiteren Archiven, zum Beispiel bei der Apostolischen Nuntiatur in Bern oder im Vatikan. Alle katholischen Organisationen wurden mit dem Einhalten einer Selbstverpflichtung beauftragt, die den Forscher:innen Zugang zu Archiven vereinfachen und Aktenvernichtungen verhindern respektive sistieren soll. Weiter soll das Personalwesen professionalisiert, der Einstellungsprozess besser kontrolliert und ein erweitertes Angebot an Anlaufstellen für Betroffene eingerichtet werden. Bischof Joseph Bonnemain resümierte: «Nur eine gewaltfreie Kirche hat eine Daseinsberechtigung.» Und ein Kulturwandel sei nötig und bereits im Gange. Der Wille zum Handeln wirft die Frage auf, ob die Kirche verstanden hat, wo ihr Gewaltproblem liegt. Gerade in Bezug auf Gewaltentrennung – es macht etwas stutzig, dass die Kirche handeln will, aber die Instrumente dazu im Kontext der kirchlichen Sphäre stehen. Ein Inbegriff von Konsequenz war der Katholizismus schliesslich noch nie. Auch bei den Betroffenenverbänden erkennt man: Die Kirche gebe vor, Licht ins Dunkel zu werfen, verweigere aber gleichzeitig den Zugang zu Archiven. 

Beim dreijährigen Nachfolgeprojekt ab Januar 2024 geht es derweil mehr darum, den Quellenkorpus zu erweitern, nicht nur über den Archivzugang, sondern nach wie vor auch über Interviews mit Betroffenen oder Zeitzeugen. Bei Kenntnis über Missbräuche im Umfeld der katholischen Kirche können sich Zeitzeug:innen via forschung-missbrauch@hist.uzh.ch melden.

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