Die schöne Kunst des Swipens

In den vergangenen 30 Jahren hat sich das Kennenlernen von Menschen zwecks paarweiser Aktivitäten stark verändert. Zwar können wir einander immer noch in einer Bar oder an einem Fest anflirten, bei der Arbeit oder durch die Hand einer Heiratsvermittlerin kennenlernen, doch die Online-Angebote – von den Chaträumen der 90er- und 00er-Jahre über Inseratemärkte und ‹klassische› Partnervermittlungsplattformen bis zur Wisch-App – haben quasi ein neues Dating-Universum erschlossen. 

Aber nicht nur die technischen Möglichkeiten haben sich verändert, sondern auch die Selbstwahrnehmung der Partnersuchenden und ihre Wünsche in Bezug auf das künftige Gspusi; die Partnersuche ist quasi ein Spiegel der Gesellschaft, oder doch zumindest ein Spiegel der Vorstellungen der Gesellschaft, was einen attraktiven Menschen ausmache. Noch in meiner Jugend wurden in den damals üblichen Kleinanzeigen Eigenschaften wie Wohl- und Anstand hervorgehoben; der gut situierte Mann suchte eine bescheidene, arbeitsame und reinliche Frau – und umgekehrt. Schaut man sich heute die Profile in Dating-Portalen an, dominieren Werte wie Individualität und Selbstverwirklichung. Viele Profile ähneln sich: ein Bild in Jeans und T-Shirt, eins im Abendkleid respektive im Anzug, eins mit dem Mountainbike, eins in den Ferien am Strand oder beim Skifahren, Fitnessbilder ohne Ende. Katze oder Hund, Dirndl oder Rockerbrautoutfit, Töff oder Auto schärfen die individuelle Persönlichkeit. Man präsentiert sich weltoffen und -gewandt, und vor allem: NICHT bünzlig. Viele schreiben etwas von Pferdediebstahl, allgegenwärtig ist der Spruch «Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum». 

Und dann wäre da noch der «Rucksack». In meinem fortgeschrittenen Alterssegment wünschen sich anscheinend die meisten Frauen einen Partner ohne solchen. (Über die Wünsche von Männern und Angehörigen weiterer Geschlechter kann ich mangels Erfahrung nicht kompetent Auskunft geben.) Einen Partner also, der mit seinem früheren Leben total im Reinen ist, insbesondere mit seiner Ex-Partnerin, seinen Kindern usw. Meine Erfahrung ist aber, dass man sein bisheriges Leben überall hin mitnimmt. Wer in meinem Alter glaubt, keinen «Rucksack» mitzutragen, will sich vor allem nicht damit befassen.

Die Gefahr, dass irgendwann ein ‹vergrabener Hund› auftaucht, eine nicht verarbeitete Geschichte die Beziehung belastet, dürfte deshalb ausgerechnet bei jenen am meisten drohen, die behaupten, ohne «Rucksack» zu sein. Mir jedenfalls ist eine Frau lieber, die sich mit mir über ihre Ängste, Verletzungen und Mödeli austauscht, als eine, die glaubt, keine zu haben.

Wäre ich ein Dating-Coach, dann würde ich Ihnen also Folgendes mit auf den Weg geben: Seien Sie ehrlich mit sich selbst. Bevor Sie anfangen, überlegen Sie sich, wer Sie sind und was Sie wollen. Dann machen Sie ein aussagekräftiges Profil und zeigen Sie darin das, was Sie von anderen unterscheidet, und nicht das, was alle anderen auch zeigen, weil es gerade hip ist. Und wenn Sie schon keine eigenen Ideen haben, schreiben Sie statt langweiliger Lebensweisheiten («Träume nicht …») lieber etwas Witziges ab, wie etwa: «Ich wollte eigentlich zu Elitepartner, aber die nehmen nur Singles mit Niveau.»

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