«Die meisten Menschen sind von Natur aus sowenig reflektiert wie bösartig»

«Stranger in the Village» ist ein intellektuell herausfordernder Essay von James Baldwin über Rassismus aus den 1950er-Jahren. Céline Eidenbenz versucht mit der gleichnamigen  Ausstellung im Aargauer Kunsthaus seine dicht verwobene Analyse mittels erneuter Auffächerung in Einzelaspekte in eine Nachfühlbarkeit zu überführen.

Zuvorderst steht die einnehmende Präsenz von James Baldwin (1924–1987). Pierre Koralnik konnte ihn für die RTS zehn Jahre nach Erscheinen des Essays für eine inszenierte Rezitation des Textes vor der Kamera gewinnen. Dem brillanten Denker quasi bei der Wortfindung zusehen zu können, steigert die empathische Bereitschaft, in die folgende Auseinandersetzung mit einer ungeheuren Komplexität sowohl intellektuell wach wie auch emotional offen zu starten. Es sind in der Folge wiederum filmische Werke wie «Weisse Augen, Schwarze Haut» von Sirah Nying, wo­rin verschiedene Personen Einblick in ihr Erleben von Alltagsrassimus und den daraus erwachsenen Konsequenzen für das Selbstbild vermitteln, die helfen, eine etwaig davon abweichende eigene Wahrnehmung perspektivisch zu öffnen. Ein filigraner Stuhl, der von einem Wust von einseitiger Last aus dem Gleichgewicht gezwungen und zu Fall gebracht wird, wie die Installation «Stone Throw» von Igshaan Adams, entwickelt durch dieses geschärfte Verstehen erst seine monströse Symbolkraft.

Verunsicherung first

Nicht alle Werke fächern ihre Deutbarkeit derart leicht verständlich vor einem auf. Darin ist die Gruppenausstellung ähnlich differenzierend wie James Baldwins Brandrede. In der Wirkung des Rätselns darüber aber, ob die wandfüllende Arbeit «Mubayn» von Olga Titus vielleicht als Einladung für die Neujustierung einer Paradiesvorstellung zu verstehen sein könnte, entwickelt die durch ein Advisory Board begleitete Auswahl erst die beabsichtigte Verunsicherung, der im Idealfall ein sich Hintersinnen folgt. Mit Niki de Saint Phalles «Black is different – Black is also me now» steht gegen Ende des Rundgangs eine Versicherung der vollumfänglichen Loyalität einer Grossmutter an ihre Enkelin, was auch Hoffnung impliziert. Erkenntnis wäre keine Frage des Alters, sondern vielmehr der Bewusstwerdung. Geschichtsbewusstsein indes wird zwischen bleischwer und augenzwinkernd von Notta Caflish eingefordert, wenn sie für «White Gold» Baumwolle in die Form eines Goldbarrens presst. Die Halbwertszeit von Irrtümern etwa benennt Uriel Orlow mit «Geraniums are never red», die die Lieblingsfensterbankblumen der Schweizer:innen seit ihrem Erstimport im 17. Jahrhundert als botanisch fehlerhaft verortete Pelargonien outet. Was auch der ablehnenden Argumentation, die an sich schmerzlose Umgewöhnung der Benennung eines Schokokusses stünde für einen unerlaubten Eingriff gegenüber der «Immer schon so»-Bezeichnung ebendieser Süssspeise reichlich Wind aus den Segeln holt. 

Lustvolle Anregung second

Etliche Werke verkehren, wie James Baldwin in seinem Text, mit grosser Selbstverständlichkeit den Standpunkt von der als Mehrheit angenommenen weissen Perspektive, und dies häufig durch die Hervorrufung eines komischen Erstreflexes. Die fotografischen Verfremdungen von Hochglanzportraits zu körperlich versehrten Monsterfratzen von James Bantone mit «Fools of the north» sind regelrecht bizarr. Die Selbstbefragung einer jungen Frau nach der ausgeprägtesten Schönheit im Land in «Mirror, Mirror» von Carrie Mae Weems beantwortet das Märchenorakel mit «Snow white, you black bitch, and don’t you forget it», was eine noch weiter gesteigerte Raffiniertheit ausdrückt und die Komik rasch in Tragik überführt. Sehr einprägsam ist die direkte Gegenüberstellung «Good Twin, Evil Twin» von Lorna Simpson: Zwei identische Fahndungsfotos tragen statt eines Gesichts jeweils die Etikettierung «Guter Zwilling»/«Schlechter Zwilling» und darunter folgt je eine Aufzählung von Gründen, die zu dieser plakativen Einschätzung führen. Sinnigerweise benennen diese wiederum Eigenschaften, die je nach Perspektive oder Bedarf genausogut auf der gegenüberliegenden Tabellenhälfte zu stehen kommen könnten. Nicht zuletzt zeigt die Ausstellung auch Positionen von stolzer Selbstermächtigung – auch bezüglich des Kunstmarktes – wie die Serie «Zulu Kids» von Namsa Leuba, wo Kinder auf Podesten in traditionellen Gewändern universelle Empfindungen in ebensolch verständlichen Posen ausdrücken wie Hoffnung, Stärke oder Geduld. Das Haus selbst stellt übrigens die eigene Sammlungstätigkeit auf einer nahezu leeren Wand mit vielen Bildleerstellen und einem einzigen Gemälde (einer Schenkung) eine:r nichtweissen Künstler:in als bislang nicht ausreichend achtsam dar und führt auf, welche Massnahmen aktuell/künftig ergriffen werden, um die eigene Perspektive der Kunstbetrachtung auszuweiten.

«Stranger in the Village. Rassismus im Spiegel von James Baldwin», bis 7.1.24, Aargauer Kunsthaus, Aarau. Katalog in Vorbereitung.

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