Die FDP als Recht(s)partei

Am 1. November 2022 reichten der frühere FDP-Gemeinderat Alexander Brunner und der heutige FDP-Gemeinderat und Präsident der FDP Stadt Zürich, Përparim Avdili, beim Bezirksrat eine Aufsichtsbeschwerde gegen die Critical Mass ein. Dieser Beschwerde hat der Statthalter Mathis Kläntschi (Grüne) nun «teilweise Folge gegeben», wie der Medienmitteilung des Statthalteramts Bezirk Zürich vom Dienstag zu entnehmen ist. Aus der Verfügung geht hervor, dass die beiden FDP-Politiker ein aufsichtsrechtliches Verfahren gegenüber dem Stadtrat verlangten – und dass dieser anzuhalten sei, «das Recht – insbesondere die Strassenverkehrsregeln sowie die Bewilligungs- und Gebührenpflicht für den gesteigerten Gemeingebrauch des öffentlichen Grunds – gegenüber der Critical Mass durchzusetzen».

Der Statthalter kommt in der 27-seitigen Verfügung zum Schluss, dass die Critical Mass eine Demonstration ist, dass sie «gesteigerten Gemeingebrauch» darstellt und «somit der Bewilligungspflicht unterliegt»: «Sollte die Critical Mass ohne Bewilligung durchgeführt werden, so hat die Stadtpolizei Zürich (…) nach pflichtgemässem Ermessen Massnahmen zu ergreifen.» Doch die unbewilligte Durchführung der Critical Mass werde «prinzipiell hingenommen»: «Die Polizei hat augenscheinlich noch nie eine (Mindest-) Massnahme, um die nicht gesetzeskonforme Durchführung der Critical Mass zu verhindern, in Betracht gezogen oder getroffen.» So habe sie etwa bislang davon abgesehen, «beim Versammlungstreffpunkt mit Lautsprecherdurchsagen darauf hinzuweisen, dass es sich um eine unbewilligte Demonstration handle und den Teilnehmenden die Möglichkeit einer freiwilligen Auflösung einzuräumen».

Dass die Beschwerde nur teilweise gutgeheissen wird, hat folgenden Grund: Die beiden FDP-Politiker hatten verlangt, dass nicht nur die Bewilligungs-, sondern auch die Gebührenpflicht für den gesteigerten Gemeingebrauch des öffentlichen Grundes durchgesetzt werde. Bei «Benutzung zu politischen Zwecken» entfällt jedoch gemäss Artikel 13, Absatz 3 der Allgemeinen Polizeiverordnung (APV) der Stadt Zürich die Benutzungsgebühr, wie Mathis Kläntschi auf Anfrage ausführt – und das gilt logischerweise auch für die Critical Mass, die ja gemäss Verfügung eine «Demonstration» ist und somit eine politische Veranstaltung.

Der Entscheid vom Dienstag widerspiegelt das, was wir in der Stadt Zürich seit einiger Zeit immer wieder erleben: Die FDP verliert an der Urne, letztmals am 18. Juni – und reicht Beschwerde gegen den Mindestlohn ein. Die FDP unterliegt im Gemeinderat, konkret am 11. Mai 2022 mit ihrem Postulat, das eine Bewilligungspflicht für die Critical Mass forderte – und reicht Beschwerde ein. Wird die Beschwerde in erster Instanz gutgeheissen, ist das sicher Balsam auf die geschundene FDP-Seele Nur: Was die Mehrheit politisch beschlossen hat, macht die FDP auf juristischen Weg zunichte. Ist das wirklich das höchste aller Gefühle in unserer Demokratie? Die links-grüne Politik müsste sich ja bloss ans übergeordnete Recht halten!, pflegt die FDP dazu zu sagen. Allerdings hat sowohl in der Politik als auch in der Juristerei jede Medaille mindestens zwei Seiten, und es gibt gute Argumente für die eine wie für die andere.

Was zum Beispiel den Passus aus der Verfügung betrifft, die Polizei habe «augenscheinlich noch nie eine (Mindest-) Massnahme, um die nicht gesetzeskonforme Durchführung der Critical Mass zu verhindern, in Betracht gezogen oder getroffen», lohnt sich ein Blick ins Archiv des Gemeinderats, denn die Critical Mass rollt bekanntlich mit Unterbrüchen bereits seit den späten 1990er-Jahren durch Zürich. Vom 7. September 2005 datiert eine Interpellation des ehemaligen Gemeinderats Alecs Recher (AL). Darin steht, am 26. Juli 2005 hätten zwei Personen bei der Stadtpolizei ein «Gesuch zur Bewilligung einer Veranstaltung (nicht für politische Veranstaltungen)» eingereicht für ein «monatlich stattfindendes Critical Mass, Velodemonstration/Umzug mit erstmaliger Durchführung am 5. August 2005». Zwei Tage später hätten sie vom Büro für Veranstaltungen ein E-Mail erhalten, sie bräuchten keine Bewilligung: «Am Abend des 5. August 2005 warteten dann aber Beamte der Stadtpolizei am Besammlungsort auf die Teilnehmer der Critical Mass, um die Veranstaltung von Beginn weg zu verbieten.» Damals war Esther Maurer (SP) Polizeivorsteherin.

Wenn nun die Critical Mass als politische Demo gelten soll: Was ist damit konkret gewonnen ausser Balsam für die FDP-Seele? Soll die Polizei am Start erst per Lautsprecher verkünden, es handle sich um eine illegale Demo, und danach alle, die sich nicht aus dem Staub machen, verzeigen und wegweisen? Oder soll sie beim ersten Rotlicht warten und alle büssen, die es überfahren? Oder geht es darum, dass der Gemeinderat jetzt rasch die Bewilligungspflicht für Demos in eine Meldepflicht umwandelt, wie es Luca Maggi (Grüne) und Christina Schiller (AL, nicht mehr im Rat) mit ihrer bereits überwiesenen Motion verlangen und wie es der ‹Tagi› vom Mittwoch vorschlägt? Wobei: Das dürfte kaum etwas bringen. Denn entscheidet die Gemeinderatsmehrheit im Sinne der Motionär:innen, folgt so sicher wie das Amen in der Kirche dies: Die FDP reicht Beschwerde ein.

Ich wohne seit 1986 in Zürich und fahre ebenso lange hier Velo. Dass ich mich an die Verkehrsregeln halte, ändert nichts daran, dass ich täglich zu eng überholt und regelmässig dazu genötigt werde, widerrechtlich auf der Strasse statt auf dem Velostreifen zu fahren, weil auf dem Velostreifen mal wieder parkierte Autos stehen. Manchmal wünsche ich mir, die Autofahrer:innen könnten nachempfinden, wie ich mich dabei fühle. Doch wie sollte das gehen? Genau!, mit einer paradoxen Intervention: Dafür bräuchte es so viele Velofahrer:innen aufs Mal, dass die Autofahrer:innen sich einer Übermacht entgegensähen und sich nicht mehr frei bewegen könnten. Moment: Solch eine paradoxe Intervention gibt es doch schon, jeden letzten Freitag im Monat …

Aber jetzt soll die Critical Mass also eine Demo sein. Und mit der sogenannten Veloförderung geht es wohl im selben Schneckentempo weiter wie bisher. Wobei: Früher war es trotz fehlender Veloinfrastruktur angenehmer, in Zürich Velo zu fahren, finde ich. Denn damals hatten die Autos noch Blinker. Vielleicht müsste die FDP dazu mal eine Beschwerde einreichen. Es geht ihr ja, wie Përparim Avdili in der NZZ vom Mittwoch zitiert wird, nicht um den Erfolg in Sachen Critical Mass, sondern «um nichts anderes als um die bestehende Rechtsprechung, die der Stadtrat aus politischen Gründen nicht anwendet».

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