Die ewige Not(h)wehr der Sozialdemokrat:innen

Kaufkraft, Klimaschutz, Gleichstellung – mit diesen drei Hauptthemen und einfallsreichem Wahlkampf will die SP am 22. Oktober die herbe Niederlage der Gesamterneuerungswahlen von 2019 rückgängig machen. Die Prognosen sind gut – aber sind sie gut genug?

Als «Wahlkampfgetöse» bezeichnete das Schweizer Fernsehen die Sondersession des Nationalrates, die die SP im September angesichts der explodierenden Mietpreise beantragte. Gefordert wurden periodische Mietrenditekontrollen, ein Moratorium für missbräuchliche Mietzinserhöhungen und dringende Massnahmen, um die Explosion der Mieten zu stoppen und die Kaufkraft zu stärken – ohne Erfolg im bürgerlichen Nationalrat. Diese Formulierung missfällt Jacqueline Badran, wie sie am vergangenen Freitag beim SP-Wahlkampffest in Horgen klarstellte. «Die Behauptung, Kaufkraft sei bloss das diesjährige Wahlkampfthema, ist schlicht falsch. Es war schon immer unsere Politik, dass der Grossteil gemeinsam erwirtschafteten Kuchens vor allem an die Leute geht, die ihn mitgebacken haben.» 

Das veranschaulicht sie mit einem Badran-typisch mäandrierenden Geschichtsexkurs, zurück in die Zeit, als man Wohnungsnot noch mit th schrieb. «Viele Menschen, die zum Beispiel als Tagelöhner gearbeitet haben, konnten sich Anfang des 20. Jahrhunderts kein Zimmer, geschweige denn eine ganze Wohnung leisten und mussten deshalb eine Matratze mieten», erzählt sie. «Und damit aus dem Matratzen-Sharing mehr Profit geschlagen werden konnte, wurden die einzelnen Matratzen immer kleiner – bis der freisinnige Stadtrat 1919 eine Matratzen-Mindestgrösse einführte.» Über dieses Stadium, die Symptome statt der Ursachen zu bekämpfen, sei die FDP bis heute nicht herausgekommen. Die Reaktion der Sozialdemokrat:innen auf diesen Wucher (das «ch» in «Wucher» betont Badran besonders, als wollte sie damit ihre Abscheu gegenüber allem, was hinter dem Wort steht, deutlich machen): Die Gründung des Mieterverbands und der Genossenschaften – «aus Notwehr», wie es die Nationalrätin beschreibt. Und in diesem «Notwehrmodus» befinde sich die SP auch heute wieder. «Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks hat das Kapital seine Chance gewittert», so Badran. «Börsengänge agogo, Liberalisierung, Privatisierung, ein dramatischer Kaufkraftrutsch und als Folge Prekarisierung der Arbeiterschaft, AfD, Meloni, Rechtsrutsche in allen Ländern Europas.» 

Und das, nachdem man in den Jahrzehnten davor, als der Konsens des «nie wieder Faschismus» bestand, eine grosse, kaufkräftige Mittelschicht geschaffen, Sozialwerke aufgebaut und damit die Menschen von Existenzängsten befreit hatte. «Wie damals, als man Notwehr noch mit th schrieb, ist es auch heute und am 22. Oktober höchste Zeit, klarzustellen, dass wir uns diesen Wucher nicht mehr gefallen lassen», fordert Badran am Ende ihrer Rede. Und, dass die in Verfassung und Gesetz verankerte Kostenmiete mit Renditendeckel nach 20 Jahren endlich eingehalten werde. 

Auf Tiktok und im Pub

Not macht erfinderisch. Das merkt man dem Wahlkampf der SP an: Sie veranstaltete beispielsweise eine politische Pub-Quiz-Reihe, Fabian Molina und Tamara Funicello diskutierten auf Tiktok Mario-Kart spielend über Migration und Flavien Gousset sorgte mit seiner gewagten «Geh-nicht-wählen»-Flyerkampagne schweizweit für Aufmerksamkeit. Neben der von Jacqueline Badran in Horgen eindringlich aufs Tapet gebrachten Kaufkraft setzt die SP ihren Hauptfokus dabei auf die Themen Gleichstellung und Klimaschutz. Bei der Gleichstellung gehe es zwar dank der feministischen Bewegung voran, sagt SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer, und sie spüre einen breiten Willen zur Veränderung, aber: «Wir sind noch lange nicht da, wo wir sein wollen. Frauen stehen finanziell immer noch deutlich schlechter da als Männer, junge Eltern reiben sich zwischen Beruf und Familie auf und Frauen und queere Menschen sind weiterhin mit Sexismus und Gewalt konfrontiert.» Um diese Probleme an der Wurzel zu packen, fordert die SP gute Löhne für alle, bezahlbare Kitas, die Einführung einer Elternzeit und ein Rentensystem, das Familienarbeit und Teilzeitarbeit miteinbezieht. 

Noch breiteren Willen zur Veränderung scheint es bei den anderen beiden Kernthemen zu geben: Gemäss einer Tamedia-Umfrage gehören Kaufkraft und Klimaschutz zu den Angelegenheiten, die Herr und Frau Schweizer aktuell am meisten Sorgen bereiten (den ersten Platz auf der Liste belegen übrigens wenig überraschend und mit grossem Abstand die steigenden Gesundheitskosten, die über 75 Prozent der befragten Personen als alarmierend bewerten). Auffällig ist, dass der CS-Crash und seine Folgen kaum Einzug ins Wahlkampfdossier der SP finden. Wieso? Nachfrage bei Nationalratskandidat Nicola Siegrist: «Die SP hat seit dem CS-Crash im Parlament einiges gegen die Boni-Exzesse der Manager:innen und das Finanzcasino zu unternehmen versucht, aber die Bürgerlichen haben es schamlos auf die lange Bank geschoben. Bei aller Wut beschäftigen viele Menschen aber die unmittelbaren Probleme wie die Krankenkassen oder die Mieten stärker.» Siegrist versichert jedoch: «Das Thema bleibt aber auf der Traktandenliste, denn die Monsterbank UBS ist nun ein ständiges Klumpenrisiko für die Schweiz.»

Fertig Pflästerlipolitik

Themen, die einen Grossteil des Volkes beschäftigen und engagierter, einfallsreicher Wahlkampf – dieses Rezept könnte die SP nach der grossen Wahlniederlage von 2019 (–2,0 Prozent) wieder in den grünen Bereich katapultieren: 0,8 gewonnene Prozentpunkte traut die Tamedia-Umfrage der SP zu (Stand: 3.10.). Eher ein kleines Katapult also, besonders im Vergleich zum Trebuchet der SVP: Diese soll mehr als 3 Prozent zulegen.

0,8 Prozent, das reicht nicht, ist sich Daniel Jositsch, der zweite Gast des Horgner Wahlkampffests am Freitagabend, sicher: «Lassen wir uns nicht davon täuschen, dass es im Nationalrat eigentlich okay› aussieht. Wir haben eine riesengrosse Verantwortung.» Die SP müsse mindestens so viel gewinnen, wie die Grünen verlieren, nur um politischen Gleichstand zu erreichen. Prognosen zufolge wären das 2,7 Prozent Und: «Für politischen Fortschritt müssen wir noch viel mehr gewinnen.» Gerade im Bezug auf den Klimaschutz wären günstigere Mehrheitsverhältnisse im Parlament wünschenswert: «Bis 2050 wollen wir die Energiewende schaffen – also noch 27 Jahre», rechnet Jositsch im ehemaligen Schulhaus vor. «Das ist praktisch nichts, um ein Projekt dieser Grössenordnung zu stemmen.» Es bleibe nun keine Zeit mehr für Pflästerlipolitik. Was denn, wenn nicht Pflästerlipolitik? «Massive öffentliche Investitionen in den Umbau der Energieversorgung, die Mobilitätsinfrastruktur und den Gebäudepark – und zwar sozial gerecht, sodass wir niemanden zurücklassen», findet Nicola Siegrist. «Dann ist die Energiewende und der Ausstieg aus der fossilen Wirtschaft bis 2050 möglich.» Um die Kurve zu kratzen, brauche es aber eine stärkere Linke und konstanten Druck von der Strasse.

Die Phalanx aus den CVP-Stammlanden

Schlechter als «okay» sieht es im Ständerat aus: Dort sitze, so Ständeratskandidat Jositsch, eine «bürgerliche Phalanx ein», die jedes zukunftsträchtige Projekt verhindere. Zwar sei im Ständerat die Mitte noch vor der FDP die grösste Fraktion, aber: «Das sind die konservativen Mitte-Ständerät:innen aus den CVP-Stammlanden, die ebenso gut bei der SVP sein könnten, aber aus familiärer Tradition der Mitte angehören.» Die Strategie dieser Phalanx: Jositsch in den zweiten Wahlgang drücken, um ihn dort mit geeinten bürgerlichen Schildern und Lanzen zu bezwingen. Für die linken Parteien ist die Wahl Jositschs im ersten Gang also eminent wichtig. Deshalb auch Jositschs Appell ans Publikum in Horgen: «Vergessen Sie nicht: Die grösste Partei sind die Nichtwähler:innen. Sie arbeiten vielleicht mit euch, sind Familienmitglieder oder Bekannte.» Und wie überzeugt man denn ein nichtwählendes Familienmitglied oder eine Bekannte, die SP zu wählen? Nicola Siegrist sagt: «Es gibt Parteien, die sind kurz vor den Wahlen immer sehr besorgt um die Wünsche der Wähler:innen, aber nach dem Wahltag machen sie wieder Politik für mächtige Lobbys, das sind FDP und SVP. Und es gibt eine Partei, die sich vor UND nach den Wahlen fürs Portemonnaie und die Rechte der normalen Leute sowie für den Schutz der Umwelt einsetzt: Das ist die SP.»

 

Parteien im Wahlkampf

Wie geht es den Parteien links der Mitte im Wahlkampf, was freut oder ärgert sie, was sind ihre Themen? P.S. fragt nach – zum Abschluss bei der SP.

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