«Die Ablehnung der politischen Ideologie des Zionismus ist nicht antisemitisch»

In einem aktuellen Positionspapier kritisiert die «Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina» (Jvjp) die zunehmende Gleichsetzung von Israelkritik mit Antisemitismus. Diese Entwicklung, warnt Jvjp-Mitglied Shelley Berlowitz im Gespräch mit Tim Haag, unterminiere den notwendigen Diskurs und erschwere den Kampf gegen tief verwurzelten Antisemitismus.

Nachdem Sie einige Jahre Ihres Lebens in Israel verbracht und sogar im Militär gedient haben, hat sich Ihre Haltung gegenüber der israelischen Politik verändert. Was ist passiert?

Shelley Berlowitz: Meine Reise von einer sehr zionistischen Weltanschauung hin zu einer kritischeren Haltung gegenüber der israelischen Politik war geprägt von persönlichen Erlebnissen und einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit der Komplexität des israelisch-palästinensischen Konflikts. Ich bin in Israel geboren, wuchs aber in der Schweiz auf, in einem Umfeld, das stark von zionistischen Idealen geprägt war. Diese Überzeugungen führten mich zurück nach Israel, wo ich meinen Militärdienst leistete und zu studieren begann. Die Wende kam durch eine Reihe von Ereignissen und Erkenntnissen, die mich dazu brachten, das zionistische Narrativ zu hinterfragen. Dieses Narrativ besagte, dass Israel immer die Hand zum Frieden ausstreckte und dass «die Araber» den jüdischen Staat ohne Grund ablehnten. Besonders prägend waren Erfahrungen im Militär. Sie lösten eine intensive Reflexion über die Realitäten des Konflikts und die menschlichen Kosten, die damit verbunden sind, aus. Meine Zeit im Militär konfrontierte mich mit Aussagen und Haltungen, die ich moralisch nicht vertreten konnte. Die Begegnung mit der beduinischen Bevölkerung im Sinai und das Bewusstsein über meine eigene Machtposition als bewaffnete Soldatin brachten mich zum Nachdenken über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in diesem Kontext. Der entscheidende Punkt meiner Auseinandersetzung erfolgte jedoch während der Arbeit an meiner Dissertation über palästinensisch-israelische Dialogprojekte. Die akademische Arbeit ermöglichte mir einen tiefen Einblick in die palästinensische Perspektive und zeigte mir die Vielschichtigkeit des Konflikts auf. Das Kennenlernen der gegenseitigen Narrative führte mir vor Augen, dass beide Seiten berechtigte Ansprüche und Leidensgeschichten haben, die anerkannt werden müssen. 

Sie engagieren sich seit 2002 im Verein «Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel Palästina» (Jvjp). Warum? 

Die Jvjp wurde 2002 ins Leben gerufen, inspiriert durch die Ereignisse der zweiten Intifada und insbesondere den schweren Angriff auf das Flüchtlingslager Dschenin. Als Gruppe jüdischer Personen sind wir zutiefst besorgt über die anhaltenden Spannungen und Konflikte in Israel und Palästina. Unser Anliegen ist es, eine alternative jüdische Stimme zu bieten. Wir sind weder pro-israelisch noch pro-palästinensisch, unsere Grundwerte sind Menschenrechte, Würde und Freiheit für alle Menschen in der Region. Die rechts­extreme Regierung in Israel, die Gewalt der Hamas, die israelische Vergeltung in Gaza und die Siedlergewalt in der Westbank haben unsere Besorgnis noch verstärkt. Israel behauptet, die Heimat aller Juden und Jüdinnen weltweit zu sein – der Staat spricht und handelt also auch in unserem Namen. Davon distanzieren wir uns. Aber wir bieten keine konkrete Lösung an. Die politische Lösung des Konflikts müssen die Menschen vor Ort, Israelis wie Palästinenser, gemeinsam aushandeln. Im Zentrum unserer Haltung stehen Freiheit für alle und damit die Beendigung der 57-jährigen Besatzung. Und in diesen Zeiten auch der Stopp der Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen Israels gegen die Zivilbevölkerung in Gaza und die Freilassung der Geiseln und politischen Gefangenen. 

Und wo positionieren Sie sich innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz?

Es wäre falsch zu sagen, dass wir hier eine Mehrheitsposition vertreten. Wir unterstützen und sind solidarisch mit linken, jüdischen Menschenrechtsorganisationen und Aktivist:innen in Israel und repräsentieren damit eine Gruppe, die sich oft nicht mit den offiziellen Positionen der jüdischen Institutionen in der Schweiz identifizieren kann. Trotz unserer relativ kleinen Zahl glaube ich, dass es auf individueller Ebene mehr Juden und Jüdinnen gibt, die sich unseren Ansichten annähern, auch wenn viele dies nicht öffentlich tun. 

Wieso nicht?

Ein wesentlicher Faktor ist die vorherrschende Angst innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, die israelische Politik öffentlich zu kritisieren. Viele befürchten, sie könnten damit dem Staat Israel in den Rücken fallen und antisemitische Ressentiments fördern. 

Um scheinbare und reale antisemitische Ressentiments geht es auch in dem Positionspapier, das die Jvjp im Februar veröffentlicht hat. Können Sie die Hauptargumente, die die Analyse hervorgebracht hat, erläutern?

Wir stellen fest, dass in jüngerer Zeit vermehrt vorschnelle Antisemitismusvorwürfe erhoben werden, oft im Kontext der Kritik an der israelischen Politik. Diese inflationären Vorwürfe richten sich hauptsächlich gegen linke Bewegungen und Organisationen, die israelische Regierungsmassnahmen kritisieren. Ich möchte klarstellen, dass es definitiv Antisemitismus gibt, auch innerhalb der Linken. Antisemitismus existiert in vielen Formen und ist tief in der Gesellschaft verwurzelt, was eine kritische Selbstreflexion aller politischen und gesellschaftlichen Gruppen erforderlich macht. Die Strategie der israelischen Regierung und einiger offizieller jüdischer Organisationen, die legitime Kritik an Israel als Antisemitismus zu brandmarken, ist jedoch sehr problematisch. Dies geschieht beispielsweise in der Diskussion um die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions), die oft pauschal als antisemitisch abgestempelt wird. Unsere Analyse legt dar, dass diese vorschnellen Antisemitismusvorwürfe nicht nur den Raum für eine notwendige öffentliche Debatte einschränken, sondern auch die Bekämpfung des tatsächlichen Antisemitismus erschweren. Unser Ziel ist es, eine differenzierte Betrachtung zu fördern, die es erlaubt, sowohl Kritik zu üben als auch Antisemitismus wirksam zu bekämpfen.

Seit wann beobachten Sie diese Entwicklung?

Die Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs als Abwehrstrategie gegen Kritik an der israelischen Politik ist kein Phänomen der jüngsten Vergangenheit. Bereits im ersten Libanonkrieg 1982 hat der damalige Regierungschef Menachem Begin den PLO-Vorsitzenden Jassir Arafat mit Hitler verglichen. Diese Tendenz, politische Gegner mit Nationalsozialisten gleichzusetzen, hat also eine lange Geschichte. Wer gegen Nazis kämpft, darf alles, oder? Ein signifikanter Wendepunkt war Anfang der 2000er-Jahre unter der Regierung von Ariel Sharon. In dieser Zeit wurde der sogenannte 3D-Test eingeführt, der die Leugnung des Existenzrechts Israels, die Dämonisierung Israels oder ein doppelter Standard in der Beurteilung Israels als Antisemitismus bezeichnete. Nur: Was ist Dämonisierung? Wie stellt man einen doppelten Standard fest? Und schliesslich: Ist im Existenzrecht Israels auch die Zustimmung zu jüdischer Vorherrschaft inbegriffen? Seitdem hat die Tendenz, Kritik mit dem Vorwurf des Antisemitismus abzuwehren, deutlich zugenommen.

Wie unterscheiden Sie zwischen legitimer Kritik an der Politik Israels und antisemitischen Äusserungen? Wo ziehen Sie die Grenze?

Es ist nicht so, dass Kritik an israelischer Politik ab einem gewissen Punkt in Antisemitismus umschlägt. Antisemitismus ist eine tief verwurzelte Weltanschauung, die sich auf bestimmte stereotype Vorstellungen von Juden und Jüdinnen stützt. Diese Vorstellungen sind meist negativ und unterstellen jüdischen Menschen riesige Macht oder den Willen zur Weltverschwörung. Sie können aber auch scheinbar positiv sein, wie die Zuschreibung besonderer Intelligenz oder Fähigkeiten. Wenn solche stereotypen Vorstellungen in öffentlichen Diskursen verwendet werden, bewegen wir uns im Bereich des Antisemitismus. Die Unterscheidung zwischen legitimer Kritik an der israelischen Politik und antisemitischen Äusserungen liegt darin, ob die Kritik auf spezifische politische Handlungen oder Entscheidungen Israels abzielt, oder ob sie auf stereotype und pauschalisierende Vorstellungen von Juden zurückgreift. Ein Beispiel hierfür ist die Debatte um Antizionismus. Die Ablehnung der politischen Ideologie des Zionismus oder die Kritik am Staat Israel wegen seiner Politik gegenüber den Palästinenser:innen ist nicht antisemitisch. Die Unterstellung, der «jüdische Staat» verkörpere das Böse schlechthin, ist es. Natürlich können Aussagen auch einen antisemitischen Subtext haben, der nicht sofort offensichtlich ist. Die Aufgabe besteht darin, aufmerksam zu sein und solche Subtexte zu erkennen und zu hinterfragen. 

Die Parole «from the River to the sea, palestine will be free» wird oft als Beispiel für antisemitische Sprache innerhalb der Linken aufgeführt, weil sie die Auslöschung des Staats Israel herbeiwünsche.

Der Kern dieses Slogans ist das Wort ‹frei›. Es ist ein Ruf nach Freiheit und Selbstbestimmung der Palästinenser:innen, die seit über 75 Jahren in Israel als Bürger:innen zweiter Klasse und seit 57 Jahren in der Westbank und Gaza unter Besatzung leben. Man muss sich vor Augen führen, was das bedeutet:  ein Leben ohne grundlegende Freiheiten. Palästinenser:innen unter Besatzung können alltägliche Entscheidungen nicht selbstbestimmt fällen. Nicht, wo sie arbeiten oder leben, nicht ob sie ihre Verwandten besuchen, ihre Felder bestellen oder und unter welchen Bedingungen ihre Kinder zur Schule gehen. Es ist wichtig zu verstehen, dass dieser Ruf nicht zwangsläufig eine Auslöschung des Staates Israel fordert, sondern ein Ruf nach Freiheit ist. Die israelische Politik hat über die Jahre hinweg, insbesondere unter Premierminister Netanjahu, «from the River to the Sea» eine jüdische Vorherrschaft angestrebt und durchgesetzt. Im Gegensatz zum palästinensischen Slogan wird dies offenbar nicht als pauschal rassistisch angesehen. Es ist falsch, den Slogan pauschal als antisemitisch zu brandmarken. Es ist aber entscheidend, die Intention dahinter zu verstehen. Wenn damit Gewalt oder Hass gegen Juden propagiert wird, ist das antisemitisch.

 

Mehr Informationen:

Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina: «Antisemitismus-Vorwürfe an die Linke», Februar 2024

Shelley Berlowitz: Die Erfahrung der Anderen. Konfliktstoff im palästinensisch-israelichen Dialog, Konstanz 2012

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