Der schwerfällige Tanker

«Beruf und Familie vereinbaren – Absicherung inklusive». Diesen Titel trug die Veranstaltung der Fachstelle für Gleichstellung vom Dienstagabend im ‹Kosmos›. Besprochen wurde, was das Bedürfnis, Haus-, Familien- und Erwerbsarbeit zu teilen, mit dem Sozialversicherungssystem zu tun hat.

 

 

Leonie Staubli

 

 

Ein ganzer Kinosaal füllt sich am Dienstagabend im ‹Kosmos›, als Anja Derungs, Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich, die Veranstaltung «Beruf und Familie vereinbaren – Absicherung inklusive» eröffnet. Im Zentrum steht die Frage, was es für die soziale Absicherung von Familien bedeutet, wenn Eltern die Familien- und Erwerbsarbeit untereinander aufteilen möchten, wie es heute vermehrt der Fall ist. Den Anfang mit kurzen Einführungsreferaten machen Walter Schmid, der als Dozent an der Hochschule Luzern tätig ist und früher in Zürich das Amt für Jugend- und Sozialhilfe geleitet hat, und Sabina Littmann-Wernli, Leiterin im Bereich Forschung und Evaluation beim Bundesamt für Sozialversicherungen.

 

Sozialversicherungen

Schmid gibt einen Abriss der Geschichte der staatlichen Versicherungen, die erstmals 1902 mit der Militärversicherung ins Leben gerufen wurden. Dabei vergleicht er die Sozialversicherungen mit einem langsamen Tanker: Einer Veränderung in der Politik und den Versicherungen müsse immer ein gesellschaftlicher Wandel vorangehen, auf den dann reagiert werden kann. Ein Beispiel dafür ist die AHV, bei der vom Eintrag in die Verfassung bis zur Etablierung und ersten Zahlungen Jahrzehnte vergingen. Einen Grund für diese langsame Entwicklung sieht Schmid in der direkten Demokratie. So ist auch die letzte Vorlage für eine Revision im Herbst 2017 vom Volk abgelehnt worden. Die letzte Systemänderung ist damit über 20 Jahre her und es wird wieder lange dauern, bis eine neue Vorlage vors Volk kommt. In dem Sinne ist es nicht verwunderlich, dass die AHV heute Bestimmungen folgt, die sich an eher traditionellen Rollenbildern orientieren. Zum Beispiel bleibt die Ehe eine Voraussetzung der Mutterschaftsversicherung, im Konkubinat lebende Paare mit Kindern haben dort Nachteile. Das grösste Armutsrisiko besteht weiterhin für alleinerziehende Elternteile. Und Littmann-Wernli, die in ihrem Referat das Drei-Säulen-Modell näher erklärt, merkt an, dass dieses «Erfolgsmodell» für Männer und Frauen nicht einen gleich grossen Erfolg bedeute: Die Differenz zwischen den Geschlechtern betrage im Durchschnitt 20 000 Franken im Jahr.

 

Insgesamt sind über die Jahre auch viele Dinge passiert, die zu einer einfacheren Vereinbarkeit von Beruf und Familie beitragen. So ist die Lohnbenachteiligung der Frauen, die dadurch häufig von der Erwerbsarbeit abgehalten werden, nicht mehr zwingend, es findet ein Wandel im Bild von Familie und Kindererziehung statt, die Ganztagesschule ist im Kommen und die «Teilzeittätigkeit hat einen Aufschwung genommen», wie Schmid betont. Trotzdem arbeiten Männer häufiger Vollzeit. Weil viele Frauen nach der Geburt eine Auszeit nehmen, die über den bezahlten Mutterschaftsurlaub hinausgeht, und auch danach oft nur Teilzeit arbeiten, fehlen ihnen AHV-Beiträge, was im Falle einer Scheidung später ein Risiko darstellt.

 

Kein Frauenthema

Nach den Referaten stossen in der Podiumsdiskussion zwei weitere Fachleute dazu: Heidi Stutz, Bereichsleiterin für Familienpolitik und Gleichstellung von Frau und Mann im Büro Bass und Dorian Kessler, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Departement für Soziale Arbeit an der Berner Fachhochschule. Moderiert wird die Runde von Nadine Jürgensen, Journalistin und Rechtsanwältin. In einer ersten Frage spricht Jürgensen bereits an, dass Frauen, wenn es um die AHV oder die Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit geht, meist im Nachteil sind. Ob das die Diskussion zu einem Frauenthema mache? Stutz antwortet darauf, dass es eher ein Thema der unbezahlten Arbeit sei. Diese kann auch bei den Männern liegen, nur ist das traditionellerweise nicht der Fall. Kessler fügt hinzu, dass es zum Teil auch der Lohnungleichheit zu verdanken ist, dass Männer mehr arbeiten und Frauen sich mehr um Erziehung und Haushalt kümmern, denn dass der Elternteil arbeiten geht, der mehr verdient, ist finanziell gesehen nur logisch.

 

Weiter unterhalten sich die Diskutierenden darüber, wie schwierig es ist, überhaupt eine Teilzeitstelle zu finden. Gerade Männer werden vom Arbeitgeber häufig daran gehindert, weniger zu arbeiten. Und auch für Frauen ist es schwierig, an eine Teilzeitstelle zu kommen, besonders nach einem Ausstieg aus dem Berufsleben. Schmid kritisiert die Tatsache, dass Frauen häufig geraten wird, möglichst bald wieder zu arbeiten: «Als ob man eine Stelle einfach aus dem Schrank holen könnte!» Dass das Sozialversicherungssystem geschlechterneutral agiere, nütze wenig, wenn man als Frau keinen Job finden und die entsprechenden Einzahlungen nicht machen könne. Stutz ergänzt, dass auch die Kinderbetreuungskosten viel zu hoch sind, und dass dies in den ersten Jahren die grösste Hürde für neue Eltern ist, die wieder arbeiten möchten. Auch Littmann-Wernli geht mit den anderen einig, als sie anmerkt, dass die sozialpolitische Diskussion in der Schweiz noch weit davon entfernt ist, was wir uns als soziales Land leisten könnten und müssten.

 

Was hilft?

Lösungen zu finden stellt sich einmal mehr als schwierig heraus. Littmann-Wernli rät den Müttern, genügend zu arbeiten und externe Kinderbetreuung in Anspruch zu nehmen, und Stutz weist darauf hin, dass dies vor allem dann nötig ist, wenn man nicht heiraten möchte und darum als Einzelperson versichert ist. Die Durchsetzung von Lohngleichheit, das Angebot von Teilzeitstellen und Elternurlaub sind Faktoren, mit denen die Wirtschaft sich beteiligen könnte, doch das kann vom Staat schwer reguliert werden. Schmid erwähnt als Möglichkeit das bedingungslose Grundeinkommen, das hier interessant werden könnte – doch wie Stutz einwendet, besteht die Gefahr der Traditionalisierung, weil es zu einer noch grösseren Lücke zwischen den Geschlechtern führen könnte, wenn wieder der Mann mit dem höheren Einkommen arbeiten geht. Als im Publikum der Vergleich der Sozialversicherung mit einem langsamen Tanker aufgegriffen und gefragt wird, warum die Schweiz anderen europäischen Ländern in diesen Fragen so sehr hinterherhinke, ist Schmids Antwort noch einmal die direkte Demokratie. Ein Vaterschaftsurlaub, meint er, wäre ein erster Schritt zur Besserung. Und die Freiheiten des Föderalismus könnten für einmal gewisse Vorteile bergen. Doch grundsätzlich, wie Jürgensen abschliessend feststellt, ist das System schwerfällig – und wir müssen damit navigieren.

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