«Der schweizerische Antisemitismus ist oft höflich, aber nicht minder verletzend»

Wer bestimmt, was antisemitisch ist? Und gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus? Zsolt Balkanyi-Guery von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus im Gespräch mit Simon Jacoby über die Funktion von Baseballkappen an Regentagen.

Heute ist ein regnerischer Tag, haben Sie darum eine Baseballkappe an, oder um die Kippa im öffentlichen Raum zu verstecken?

Es ist nicht okay, wenn die Kippa nass wird. Aber natürlich bin ich auch vorsichtiger geworden, nachdem ich im Tram angespuckt wurde. Für mich persönlich war dies nicht so schlimm, für meine Kinder schon. Sie hatten danach viele Fragen. Die Baseballkappe ist ein Zeichen von Vorsicht und auch ein Zeichen von Selbstbewusstsein: Wir sind präsent.  

Wie hat sich Ihr Leben als jüdische Person in Zürich verändert seit den Hamas-Attacken vom 7. Oktober? 

Dieser Tag war sicher einschneidend und wirkt noch immer nach. Es gibt unzählige Aktionen für die Geiseln, und die Frage, wie wir mit der Situation umgehen. Wir müssen uns klar darüber werden, dass das Leben auch nach dem 7. Oktober weitergeht. Wir überlegen uns auch, wie wir als Schule weiterfahren und was diese Zäsur bedeutet. Nach langer Zeit haben wir wieder einen Einbruch erlebt. Der Antisemitismus ist wieder voll da. In der jüdischen Gemeinschaft versucht man immer, aus Krisen gestärkt hervorzugehen. Wir versuchen diesem Ereignis keine zentrifugale Wirkung zuzugestehen, sondern stärken den Zusammenhalt.

Funktioniert das? In der breiten Gesellschaft nehme ich eher eine Spaltung wahr. 

In der jüdischen Gemeinschaft rückt man näher, weil man merkt, dass es eine Bedrohung gibt. In dieser Heftigkeit habe ich das jedoch nicht für möglich gehalten. Gesellschaftlich gesehen ist es ein Abbild der Realität, dass wir immer noch den Sinn und Zweck des Staates Israel erklären müssen und wie jüdische Gemeinschaften dort auch historisch verwoben sind. 

Was sind die häufigsten antisemitischen Stereotypen, die Ihnen im Moment begegnen? 

In letzter Zeit gibt es wieder offene Gewalttätigkeiten in Zürich, zum Beispiel Sprayereien wie «Tod den Juden». Das sind alles Manifeste eines virulenten und nicht eines latenten Antisemitismus. Ich selber bin stark in der jüdischen Gemeinschaft unterwegs, einem sehr behüteten Kreis. Damit stelle ich mich nicht der alltäglichen Feindschaft aus und bekomme nur wenig Subtiles mit. Lange galt die Vorstellung, dass Antisemitismus von brachialen Typen in Springerstiefeln ausgeht, aber das ist meistens nicht so. Der schweizerische Antisemitismus ist oft zwischen den Zeilen, höflich, aber nicht minder verletzend. 

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Aber-Aussagen sind typisch, etwa: «Ich kenne viele jüdische Menschen, die sind mir auch lieb. Aber was in Israel passiert, das geht gar nicht». Überall, wo ein Aber davorsteht, gibt es ein Einfallstor für ein gewisses Gedankengut. 

Von Diskriminierungsformen wie Sexismus und Rassismus kennen wir die Mechanismen: «Ich bin kein Rassist, aber…» Es gibt antisemitische Äusserungen, die nicht erkannt werden, weil sie sich nicht an jüdische Menschen richten. Zum Beispiel, wenn man von den Globalisten spricht, oder von reichen Unternehmer:innen, die sich Aufträge zuschachern.

Genau, das sind auch antisemitische Stereotype, die nichts mit dem aktuellen Konflikt zu tun haben. In der Soziologie spricht man hier von Antisemitismus als kulturellem Code, den es zu entschlüsseln gilt. Schon Adorno sagte, Antisemitismus sei das Gerücht über Juden. Vielleicht haftet an einem Gerücht etwas Wahres, aber das Gerücht ist auch selbstständig. Aber natürlich kann man die Eliten kritisieren, ohne Antisemitismus zu betreiben, indem man nicht ins Fahrwasser der Codierungen gelangt. 

Sie sagen, Antisemitismus werde oft mit brachialen Springerstiefeltypen gleichgesetzt. Ich stelle auch fest, dass Antisemitismus häufig als Synonym für den Holocaust verstanden wird. Bei anderen Diskriminierungsformen ist der Diskurs viel weiter und alltägliche Aggressionen werden auch realisiert. Warum? 

Das Reden über Juden und Jüdinnen wurde lange Zeit an der unglaublichen Katastrophe, der Shoah, festgemacht. Europäische Gesellschaften hatten den Ankerpunkt des «Nie wieder». Was damals passiert ist, sollte nie wieder geschehen. Zahlreiche Bildungs- und Dialogprojekte knüpfen daran an und prägen so den Diskurs über Antisemitismus. Die Wirkmächtigkeit der Shoah ist in der westlichen Kultur sehr stark. Wenn ich mit meinen Kindern über das Judentum spreche, dann versuche ich eine lebensbejahende, fröhliche und gemeinschaftliche Perspektive einzunehmen. 

Bei Rassismus oder auch Sexismus gilt oftmals die Perspektive der Betroffenen. Also wenn eine Frau etwas als sexistisch wahrnimmt, dann glauben wir ihr das. Bei Antisemitismus nehme ich das anders wahr: Häufig wird eine persönliche Betroffenheit negiert und versucht, eine sachliche und objektive Ebene einzubringen. Wer entscheidet, was antisemitisch ist? 

Es gibt unglaublich viel Literatur darüber, was Antisemitismus ist und was nicht. Allgemein formuliert richtet sich Antisemitismus primär gegen Juden und Jüdinnen, und das in vielfältigen Formen. Dies kann man juristisch lösen und hoffen, dass sich eine Rechtspraxis etabliert und dort definiert wird, wo eine rote Linie gezogen wird. In der Schweiz ist das bisher nicht der Fall, es gibt kaum eine Rechtspraxis. Um eine Diskussion auszulösen, ist die Frage der Betroffenheit wichtig. 

Wie meinen Sie das?

Wenn jemand sagt, dass er oder sie sich angegriffen fühlt und etwas nicht Ok findet, dann muss man dies thematisieren. Es gibt aber auch Antisemitismus, der ohne jüdische Personen stattfindet und somit niemanden direkt persönlich betrifft. Dort ist die Gesellschaft als Ganzes gefordert. 

Gefühle der persönlichen Betroffenheit lassen sich juristisch aber nicht so einfach regeln. Viele Juden und Jüdinnen haben seit den Attacken der Hamas physische Angst, auch hier in Zürich. Ein Shoa-Trauma bricht auf, das über mehrere Generationen vererbt wurde. Man nennt das auch die transgenerationale Weitergabe von Traumata. Dies ist von aussen gesehen nicht nötig und nicht rational, doch die Gefühle sind echt. 

Traumata sind nie nötig, sie entstehen. Dies wird man juristisch nie in den Griff bekommen. Für die Betroffenen ist es daher wichtig, dass der Staat oder zumindest die Zivilgesellschaft beruhigende Signale aussendet, eine Message, wie du sie jetzt formulierst, «es ist nicht nötig». Es muss ganz klargemacht werden, dass hier keine Gefahr droht. 

Bei Rassismus geht es oft um eine Abwertung, um das Schlechtermachen von rassifizierten Menschen. Bei Antisemitismus geht es fast immer um Verschwörungen: die Kindermörder, Brunnenvergifter, Juden und Jüdinnen ziehen im Hintergrund die Fäden und kontrollieren die Medien. Gibt es gemeinsame Mechanismen? 

Das ist eine intellektuelle Frage – natürlich gibt es stereotypische Unterschiede. Bei jüdischen Menschen gibt es einen Sozialneid, weil man ihnen unterstellt, im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Beim Rassismus ist es eher der Kolonialisierungsstereotyp. Grundsätzlich habe ich Mühe, Rassismus und Antisemitismus abzugrenzen, denn aus der Perspektive der Betroffenen gibt es keine Unterschiede. Es sind alles Menschen, die ein Recht darauf haben, in ihrer Würde verstanden zu werden. Für unsere Stiftung ist es wichtig, dass man die Würde des Menschen hochhält und dort in die Bresche springt, wo eben diese in irgendeiner Form gefährdet ist.

Hier lebende Juden werden aufgefordert, sich von den Aktionen der israelischen Armee zu distanzieren. Umgekehrt geht es den Palästinensern gleich mit den Distanzierungsforderungen von der Hamas. 

Nein, so kommen wir nicht weiter. Mit dem grossen Unterschied, dass die Hamas eine terroristische Organisation ist, während Israel ein demokratischer Staat ist. Aber ich glaube, wenn man die Betroffenheit hochhält, sollte ein Dialog möglich sein. Nicht mit der politischen Brille und dem Anspruch, den Konflikt zu lösen, sondern indem man die Menschen in den Mittelpunkt stellt und eine Solidarität im Leiden schafft. 

Obwohl Antisemitismus nie weg war, dominierten in den vergangenen Jahren eher der Rassismus gegen People of Color und gegen Muslime die öffentliche Debatte. Auch jetzt werden in Europa lebende Palästinenser:innen teilweise angegriffen. Wie reagieren Sie darauf? 

Alle Formen von Angriffen und Verletzungen sind ein No-Go. In einem solchen konkreten Moment ist Zivilcourage sehr wichtig, dass man hilft und sich dazwischenstellt. Es gibt keine legitimierte Form von Gewalt gegen Palästinenser:innen, wie es auch keine legitimierte Form von Gewalt gegen Juden und Jüdinnen gibt. Wir dürfen auf keinen Fall verschiedene Formen der Diskriminierungen gegeneinander ausspielen und müssen als Gesellschaft dagegen halten. 

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