«Das macht mir Angst. Und es macht mich wütend.»

In Zürich müssen Drag-Lesungen für Kinder von Aktivist:innen und der Polizei beschützt werden. Simon Muster im Gespräch mit dem Schaffhauser Tobias Urech alias Mona Gamie über eine Eskalation, die sich abgezeichnet hat.

Wir treffen Tobias Urech an einem sonnigen Montagmorgen vor dem ehemaligen Barfüsser im Zürcher Niederdorf. Das Barfüsser gilt als eine der ersten Schwulen- und Lesbenbars in Europa – hier wurden rauschende Partys gefeiert, hier konnte man aus dem aufgezwungenen bürgerlichen Doppelleben ausbrechen. Und hier wurde man in den 1960er-Jahren von der Zürcher Polizei drangsaliert, die – angetrieben von Medien und Politik – gegen den «homosexuellen Sumpf» vorging, Menschen auf offener Strasse zwang, ihre Hosen abzuziehen und sie anschliessend in einem «Schwulenregister» eintrug.

Heute heisst das Barfüsser «Kweer». Durch den Tag ein hippes Kaffee wie viele in Zürich, am Abend eine Bar mit Veranstaltungen wie «Drag Bingo» oder «Queer Speedfriending». Regenbogenflaggen kleiden das Innere aus.

Tobias, vorhin beim Kaffee bestellen hast du gesagt, du hättest am Wochenende zwei Auftritte gehabt und du seist noch ein wenig übernächtigt. Wie wars?

Tobias Urech Es war schön. Am Samstag hatte ich einen Auftritt an einer lesbischen Hochzeit, an der ich den ganzen Abend gesungen habe – deswegen ist meine Stimme heute auch ein wenig belegt (lacht). Gestern war ich dann bei einem Treff von schwulen Männern in Schwyz, der im Restaurant Hirschen stattfand. 

Das klingt nach einer schönen Erfahrung, die sich mit der aufgeheizten politischen Debatte rund um Drag-Performer:innen wie dich kontrastiert. Erst vor wenigen Wochen musste eine Drag-Lesung für Kinder in Oerlikon von Aktivist:innen und der Polizei von rechten Demonstrant:innen mit Verbindungen zur Reichsbürgerbewegung beschützt werden – zwei SVP-Politiker hatten zum Protest gegen die Lesung für Kinder aufgerufen. War das auch ein Thema an deinen Auftritten?

T.U.: Im Zusammenhang mit den Auftritten vergangenes Wochenende war das kein Thema, aber ich hatte vor zwei Wochen einen Auftritt mit zwei anderen Dragqueens und dort hatten wir mehr Zeit, das Thema auszubreiten. Einerseits, weil wir direkt in der Schusslinie stehen, aber auch, weil viele andere Menschen in unserer Community betroffen sind von dieser gefährlichen Eskalation.

Was löst es in dir aus, dass du als Drag-Performerin so unvermittelt in der Schusslinie einer politischen Debatte stehst?

(überlegt) Ganz so unvermittelt geschieht das ja nicht.

Wie meinst du das?

Die queere Community stand schon immer unter Druck. Neu ist, dass wir auch in der Öffentlichkeit mehr und positiver repräsentiert werden und dadurch vielleicht ein wenig vergessen geht, dass queere Menschen immer noch mit grossen Pro­blemen konfrontiert sind. Man überlegt sich immer, wo man sich auf der Strasse zeigen kann und wo nicht. Am wenigsten schlimm ist noch, wenn du auf der Strasse verbal angefeindet wirst, aber mir hat auch schon mal jemand eine Getränkedose angeworfen, als ich auf der Strasse meinen damaligen Freund geküsst habe. Dieser Druck wirkt sich ganz konkret auf die Gesundheit von queeren Menschen aus: Die Suizidalität ist signifikant höher als bei anderen Bevölkerungsgruppen. Das zeigt sich besonders bei trans Jugendlichen: 68 Prozent von ihnen haben gemäss einer Studie von 2019 ernsthafte Suizidgedanken. Der Druck auf die queere Community hat also schon immer bestanden, aber der Angriff, den wir jetzt beobachten können, hat eine neue Vehemenz. Auf die Frage, was dieser neuerliche Angriff in mir auslöst: Auf rationaler Ebene lassen mich die letzten Monate etwas ratlos zurück. Auf der emotionalen Ebene macht mir das alles Angst. Und es macht mich wütend.

Von aussen her betrachtet scheint der Backlash, den wir gerade erleben, eine Reaktion auf eine relative Öffnung der letzten Jahre zu sein: Die Realityshow «Ru Pauls Drag Race» hat Drag in den letzten Jahren in die Popkultur katapultiert.

Ja, wobei Drag ja nicht neu an die Öffentlichkeit tritt – Drag gab es schon immer. Das Travestieduo Mary und Gordy hatte in den 80er- und 90er-Jahren in Deutschland ganze Hallen gefüllt mit seinen Shows, die sogar im Fernsehen übertragen wurde. Aber klar, in den zehn Jahren, in denen ich inzwischen in Zürich lebe, ist eine riesen Dynamik entstanden – früher war die Pride zum Beispiel eine viel kleinere Veranstaltung und heute kommt man während besagtem Wochenende kaum noch über das Kasernenareal. Gleichzeitig finde ich es schwierig, die rechte Gegenreaktion auf die Sichtbarkeit von queeren Menschen zurückzuführen.

Wieso?

Weil in der ganzen Debatte viele Dinge politisch und medial vermischt werden. Da gibt es die LGBTQ-Community, die für ihre Rechte kämpft, es gibt Drag-Lesungen für Kinder und auch eine verzerrte Gleichstellungsdebatte, die sich nur um den Genderstern zu drehen scheint. Die Rechte profitiert davon, dass all diese unterschiedlichen Themen diffus vermischt werden. Sie nutzt damit opportunistisch das verständliche Gefühl bei gewissen Teilen der Bevölkerung aus, der Dynamik bei Geschlechterthemen nicht folgen zu können. 

Versuchen wir also, die Debatte zu entwirren. Beginnen wir bei dir: Was ist für dich Drag?

Drag ist für mich ein Teil meines Lebens und inzwischen nicht nur ein Hobby, sondern zu einer Nebeneinkunft geworden. Als Drag Queen lege ich Frauenkleider an, Stöckelschuhe, Perücken und spiele die Kunstfigur Mona Gamie. Für mich ist Drag die Möglichkeit, eine Femininität zu zelebrieren, bei der es gesellschaftlich nicht akzeptiert ist, wenn sie ein Mann ausdrückt. Und ich feiere damit Weiblichkeit und möchte zeigen, dass sie eine Stärke ist, keine Schwäche.

Was hat dein Interesse an Drag geweckt?

Ich wurde aus der Not heraus als Drag Queen geboren (lacht). Für eine Party der Milchjugend, eine LGBTQ-Jugendorganisation, bei der ich lange im Vorstand war, suchte man eine Drag Queen für einen Aufritt. Das war vor zehn Jahren und die Drag-Community war in einem Tief, es war also nicht so einfach wie heute, jemanden für den Au!ritt zu finden. Da bin ich spontan eingesprungen. In der Heilsarmee-Brocki in Schaffausen habe ich dann ein Kleid und Stöckelschuhe gekauft, an der Langstrasse in Zürich eine Perücke. Und dann war ich ausgerüstet.

Glaubst du, dass die Diskussion um Drag-Performer:innen und trans Personen gerade deshalb vermischt wird, weil beide aufzeigen, dass Geschlechterrollen nicht stabil sind?

Klar, Geschlechterrollen betreffen alle, wir alle leben in diesen Kategorien, die uns zugeschrieben werden. Und sie werden seit jeher gesellschaftlich ausgehandelt und neu aufgebaut. Ich kann verstehen, dass man verunsichert ist, wenn Gewissheiten ins Wanken kommen. Aber es geht dabei nicht darum, den Leuten etwas wegzunehmen. Ich will nicht, dass alle Jugendlichen queer werden, ich will nur, dass queere Jugendliche ein lebenswertes Leben haben. Ein Paradebeispiel für die Vermischung, die du angesprochen hast, ist ein kürzlich erschienener Leitkommentar des NZZ-Chefredaktors über Drag-Lesungen, trans Personen und den Genderstern. Die immer grössere Individualisierung von Identitäten sei eine Gefahr für die liberale Demokratie. «Der Liberalismus hat sich zu Tode gesiegt, und jede Minderheit fordert ein Maximum an Rechten. Doch auch die Mehrheit verdient Respekt.» Dazu vorausschickend: Ich nehme die immer grössere Individualisierung von Identitäten auch wahr. Gerade in meiner Arbeit bei der Milchjugend tauchten immer wieder neue Identitäten auf, neue Flaggen, neue Forderungen. Und das hat auch mich manchmal herausgefordert. Mit bald 30 Jahren gehöre ich für einen 16-Jährigen ja bereits zum alten Eisen. Ich glaube aber, man muss eine Offenheit bewahren, auch wenn die neuen Wörter vielleicht zuerst kompliziert sind. Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass trotz manchen kleingliedrigen Identitäten die übergeordneten Machtstrukturen weiter wirken.

Kannst du das genauer ausführen?

Dass es heute aber mehr Identitäten gibt – oder überhaupt Minderheiten, die Rechte einfordern –, ist nicht erstaunlich, sondern gerade im Liberalismus angelegt. In liberalen Demokratien passierten von Beginn weg Ausschlüsse jener, die nicht der Norm entsprachen. Zugang zu Demokratie und Gesellschaft wurden von den Ausgeschlossenen hart erkämpft. Für die eigenen Rechte kämpfen kann aber nur, wer auch benennt, wofür sie oder er ausgeschlossen wird. Das gilt für die queere Bewegung genauso wie für feministische und anti-rassistische Bewegungen. Es ist also absurd, dass jene, die immer behaupten, im Liberalismus seien doch alle mitgemeint, dann uns vorwerfen, wir würden uns mit unserer Identität von der Mehrheitsgesellschaft abspalten – wie sonst sollen wir die Unterdrückung benennen?

Besonders bei Drag-Lesungen wie jene, die Mitte Mai in Zürich unter Polizeischutz gestellt werden musste, argumentieren die Rechten oft mit dem Kindeswohl. 

Das ist ja nichts Neues, auch gegen die Schwulenbewegung und gegen das Frauenstimmrecht wurde mit dem Kindeswohl Stimmung gemacht. Drag-Lesungen sind private Veranstaltungen, wo Eltern freiwillig ihre Kinder hinbringen. Und der Erfolg dieser Lesungen und die Rückmeldungen zeigen, dass die Kinder interessiert sind und über Geschlechterrollen sprechen wollen. Darum sind auch solche Veranstaltungen wie der sogenannte Gendertag in Stäfa so wichtig: Wir wollen mündige Bürgerinnen und Bürger, die genauso kompetent über Geschlecht sprechen können wie zum Beispiel über eine internationale Steuerreform. Ein anderes Argument, das oft angeführt wird: Der Wandel bei den Geschlechterrollen verlaufe nicht demokratisch, sondern werde der Mehrheit von einer kleinen kulturellen Elite aufoktroy­iert. Ich wäre gern Teil der kulturellen Elite in der Schweiz. Wenn das Opernhaus also mit Mona Gamie zusammenarbeiten möchte, kann es sich gerne melden. Aber ernsthaft: Wer soll dann diese Mehrheit sein? Ich mag den Begriff zwar nicht, aber als Vereinfachung hilft das Bild des alten weissen cis-heterosexuellen Mannes, um aufzuzeigen, für wen das Fantasma der sich verändernden Geschlechterrollen eine Bedrohung darstellt. Er gilt gesellschaftlich immer noch als der Standard. Die SVP, die als wählerstärkste Partei die tatsächliche Elite vertritt, nutzt das zynisch aus.

Eigentlich immer, wenn es um ein Geschlechterthema geht, landet die Diskussion unweigerlich beim Genderstern. Um es ganz offen zu sagen: Es ist mir Wurst, ob Menschen gendern oder nicht. Ich finde es richtig und wichtig, weil Sprache konstruiert unsere Realität mit. Aber diese ständigen Streitgespräche, Feuilletonbeiträge und Umfragen in den bürgerlichen Medien sind hanebüchen. Wahrscheinlich hat das überbordende Interesse der Medien damit zu tun, dass Journalisten mit Sprache arbeiten und sich deshalb persönlich getroffen fühlen, wenn Sprachkonventionen he­rausgefordert werden. Mir geht es um Anerkennung, bei der Sprache ein Teil ist, aber nicht das Hauptziel. Das Ziel ist viel materieller, etwa, dass man sich als queere Person auf der Strasse nicht mehr fürchten muss und alle Geschlechter in allen Lebensbereichen gleichgestellt sind. 

Wenn wir schon bei den Medien sind: Die Tagesanzeiger-Chefredaktorin sagte kürzlich im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Gendertag in Stäfa, der wegen Drohungen gegen die Lehrpersonen abgebrochen werden musste, dass Journalist:innen nur das Unbehagen der Bevölkerung aufnehmen und abbilden würden. Wie nimmst du das wahr?

Medienhäuser stehen natürlich unter Druck und Debatten, die sich um Genderthemen entfachen, funktionieren gut in der Aufmerksamkeitsökonomie. Die SVP hat das erfolgreich ausgenutzt. Ob man den Journalist:innen Bösartigkeit vorwerfen kann, dass sie den Ball von rechts so dankbar aufnehmen, sei hier mal dahingestellt. Aber man generiert zumindest bewusst Klickzahlen mit der Diskriminierung von Minderheiten. 

Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub meinte gegenüber der Republik, dass die Schweizer Rechte den Diskurs rund um Dragqueens und Genderthemen von den Vereinigten Staaten importiert. 

Ich finde es schwierig, wenn wir in der Schweiz immer die Position vertreten, jeder böse Diskurs käme von aussen. Diese Phobien stecken ganz tief in uns drinnen, sonst würden sie in der Schweiz nicht so gut funktionieren. Klar orientiert man sich an der amerikanischen Debatte, aber ich glaube, dass sie bei uns anders funktioniert als in den Vereinigten Staaten, wo die Bevölkerung stärker polarisiert ist. Bei uns haben sich 2020 über 60 Prozent gegen die Hassrede gegen schwule, lesbische und bisexuelle Menschen ausgesprochen; 64 Prozent haben ja zur Ehe für alle gesagt. Und auch wenn ich die Themen nicht vermischen will, ist auch der Gendertag, gegen den die SVP in Stäfa Stimmung gemacht hat, im Lehrplan 21 mehrfach demokratisch abgestützt – die Gegner:innen des Lehrplans sind etwa in den Kantonen Schaffhausen und Zürich an der Urne wuchtig gescheitert. In der Schweiz besteht also ein relativ grosser demokratischer Konsens, die Rechte von Minderheiten zu stärken. Die Schweizer Story ist eigentlich, dass die grösste Partei des Landes alles dafür tut, diesen Konsens zu untergraben. 

Machst du dir Sorgen, dass wir uns in eine ähnliche Richtung wie die Vereinigten Staaten bewegen?

Ja, schon. Worte des Hasses schüren schliesslich Taten. Man muss sich das nochmals vergegenwärtigen: Erst letzten Herbst hat die neofaschistische Gruppe Junge Tat eine private Drag-Lesung für Kinder gestört. Und genau mit solchen Antidemokraten legt sich die stärkste Partei des Landes ins Bett, was auch zeigt, wie normalisiert Homo- und Transphobie noch ist. Das macht mir Angst. Ich habe aber auch die Hoffnung, dass von der Mitte der Gesellschaft ein Bekenntnis gegen die Diskriminierung von queeren Menschen kommt. Damit das aber möglich ist, sind auch die Parteien der Mitte und Mitte-rechts gefragt – es kann nicht sein, dass sie sich der Verantwortung entziehen und einfach zuschauen.

Dieses Interview ist zuerst in der ‹Schaffhauser AZ› erschienen.

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.