«Das Insektensterben bedroht unsere Lebensgrundlage»

In der Schweiz sind 60 Prozent der Insekten gefährdet oder potenziell gefährdet, sagt René Amstutz, Projektleiter Schutzgebiete und Biodiversität bei Pro Natura Schweiz. Im Gespräch mit Angela Bernetta erklärt er, wieso der Insektenschutz essenziell für unser (Über-) Leben ist. 

René Amstutz, wie schlimm steht es um die Zahl und Vielfalt unserer Insekten?

Innerhalb der kurzen Zeit von nur drei Jahrzehnten hat der Mensch in verschiedenen Gebieten die Insektenpopulationen um bis zu 75 Prozent dezimiert. Auch die Zahl der Arten nimmt dramatisch ab: Zwei Drittel aller Schmetterlings- und Wasserkäferarten sind in ihrer Existenz bedroht.    

Welches sind die Hauptursachen für die massive Abnahme der Insektenbestände?

Der massive Rückgang der Insekten hat, je nach Art und Lebensraum, verschiedene Ursachen. Hauptgründe für das Insektensterben sind die intensive Landwirtschaft, der massive Einsatz von Pestiziden sowie die Zerstörung der Lebensräume. Die Lichtverschmutzung und der Klimawandel sind weitere wichtige Gründe.

Wieso ist die Abnahme problematisch?

Insekten sind die artenreichste Klasse im Tierreich. Weltweit sind 60 Prozent aller Tierarten Insekten. Ihr Verschwinden hat somit einen massiven Einfluss auf das Überleben anderer Arten. Das Insektensterben ist ein alarmierendes Zeichen für den allgemeinen Verlust an Biodiversität – und bedroht unsere Lebensgrundlage. Denn das Ökosystem ist wie ein Sicherungsnetz: Sind zu viele Fäden kaputt, hält das Netz nicht mehr.

Welche Folgen hat die Abnahme für die Natur und für uns Menschen?

Insekten bestäuben Blüten fast aller Wild- und Kulturpflanzen. Erdbeeren, Raps oder Kaffee: Rund ein Drittel der weltweiten Nahrungsmittelproduktion ist abhängig von Insekten. Als primäre Futterquellen für viele Vögel und andere Lebewesen sind Insekten ein wichtiger Teil im Nahrungsnetz. Ferner sind sie unerlässlich für ein funktionierendes Ökosystem. Insekten wandeln organisches Material wie Totholz, Kadaver und Fäkalien in wiederverwertbare Rohstoffe um. Auch in der Forst- und Landwirtschaft sind sie wichtige Nützlinge. Im Biolandbau, wo auf Pestizide weitestgehend verzichtet wird, ist die Förderung von Nützlingen ein elementarer Bestandteil der Produktion. Sie dämmen die Ausbreitung nicht erwünschter Insekten ein.

Was kann, was muss man gegen den Insektenschwund unternehmen?

Um den Insektenschwund zu stoppen, braucht es grosse wie kleine Massnahmen. Nur wenn Konsument:innen, Landwirt:innen, Behörden und Verbände gemeinsam Verantwortung übernehmen, können wir das Insektensterben aufhalten.

Gibt es Massnahmen, die diesbezüglich bereits aufgegleist sind oder haben die Verantwortlichen das Problem verschlafen?

Weil das dramatische Insektensterben für viele Leute nicht konkret im Alltag fassbar ist – es handelt sich um ein schleichendes Artensterben, über Jahrzehnte – ist das Bewusstsein noch zu gering, damit tatkräftig, grossflächig und global gegen das Insektensterben vorgegangen wird. In der Schweiz fehlen klare, mutige und verbindliche politische Entscheide auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene, damit deutlich mehr finanzielle Mittel sowohl zur Förderung der Insekten und der Biodiversität als auch der Aufwertung und Schaffung von qualitativ hochwertigen Lebensräumen zur Verfügung gestellt würden. Der nationale Aktionsplan Biodiversität wird zu langsam umgesetzt und zeigt noch kaum Effekte. Die seit Jahrzehnten umgesetzten ökologischen Massnahmen in der Landwirtschaft und im Wald genügen nicht, um eine Kehrtwende im Bereich Insektensterben und Biodiversitätsverlust zu erreichen.  

Was kann jeder Einzelne machen?

Konsument:innen tragen durch den Kauf von biologisch angebauten Nahrungsmitteln massgeblich zum Schutz der Insekten bei. Wer einen eigenen Garten hat, kann noch mehr tun: keine Chemie einsetzen, insektenfreundliche Blumen und Sträucher pflanzen und heimische Pflanzen mit Blüten oder Pflanzen mit Nutzen für Insekten kaufen. Exotische Pflanzen hingegen bieten den einheimischen Insekten keine Nahrung oder Lebensraum.

Was lässt sich über die längerfristige Entwicklung der Insektenbestände sagen?

Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass, wenn wir weiterhin unsere Umwelt und Lebensgrundlagen so ausbeuten wie wir das aktuell tun, das Insektensterben nicht gestoppt werden kann. Welche dramatischen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Folgen dadurch verursacht werten, kann man nur ahnen. Es sollten unbedingt langjährige, wissenschaftlich begleitete Monitorings und Beobachtungen der Insektenbestände durchgeführt werden, um Politik und Gesellschaft weiter für das massive Insektensterben zu sensibilisieren.

Weitere Infos: www.bafu.admin.ch (Studie: Gefährdete Arten und Lebensräume in der Schweiz), www.pronatura.ch/de/biodiversitaet

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.