Das gedruckte Wort

Mit Neujahrsvorsätzen habe ich es ja nicht so. Weil ich das Konzept der Selbstoptimierung schwierig finde. Vielleicht auch, weil ich sie sowieso nicht einhalten kann. Über die Festtage habe ich allerdings in einem Podcast einen Neujahrsvorsatz gehört, den ich gerne aufnehmen will: Ein Podcastteilnehmer nahm sich nämlich vor, seine Aufmerksamkeitsspanne zu erhöhen. Der Zufall will es, dass ich in einem anderen Podcast ein Interview von Ezra Klein der ‹New York Times› mit der Wissenschaftlerin Gloria Mark hörte, die genau zu diesem Thema forscht. Technologie habe, so Gloria Mark, das Ziel, die Produktivität zu steigern, uns effizienter zu machen. So dass wir schneller arbeiten und mehr produzieren können. Vieles, was man früher im persönlichen Austausch erledigt hat, macht man heute technologisch, zum Beispiel mit E-Mails, Chats oder Videokonferenzen. Das Resultat: Wir sind zwar produktiver, aber auch erschöpfter. Und unsere Aufmerksamkeitsspanne verkürzt sich, die Fähigkeit, sich auf etwas zu konzentrieren. Weil wir ständig abgelenkt werden. Oder uns selber ablenken. Während ich diesen Text schreibe, muss ich dennoch auch mal schnell in meine E-Mails schauen, oder dann erhalte ich eine Whatsapp-Nachricht. Vielleicht fällt mir auch etwas ein, was ich noch hätte erledigen sollen oder vielleicht schaue ich auch einfach noch auf einer Newssite vorbei, um sehen, was auf der Welt gerade so läuft. Ich bin also umgeben von sehr vielen Möglichkeiten, mich abzulenken. Die heutige Technologie verstärkt diese Tendenz noch, weil wir uns mit unseren Smartphones rund um die Uhr ablenken können. Und je mehr wir uns ablenken, desto mehr wollen wir uns auch ablenken lassen. Gloria Mark plädiert denn auch für richtige Pausen. Der Geist brauche wie der Körper auch Pausen, um sich erholen zu können. Das fördere die Kreativität und auch die Befindlichkeit. Die gute und zündende Idee kommt nicht immer am Schreibtisch, sondern manchmal eben auch auf einem Spaziergang. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein habe gesagt, dass er die besten Ideen beim Kartoffelnschälen hätte. Dass Problem ist freilich, dass es wohl nicht viele Arbeitsplätze gibt, wo man dann sich eben mal so einfach abmelden kann, wenn man mal eine kreative Pause braucht. 

Im vergangenen August erschien in der WOZ ein lesenswertes Interview mit der ehemaligen Anglistik-Professorin Elisabeth Bronfen. Dort konstatierte sie, dass heutige Student:innen viel weniger lesen würden als früher. Und insbesondere würden sie sich weniger bis gar nicht in theoretische und schwierige Texte vertiefen. Sie führt das unter anderem auf die Bologna-Reform zurück: «Durch die Kreditpunktvergabe werden die Studierenden ins Punktezählen gepresst. Das hat sich in den Köpfen verselbstständigt. So schnell wie möglich, so effizient wie möglich und auch nicht so sehr in die Tiefe, das ist die Idee.» Die Student:innen bewegten sich innerhalb eines kapitalistischen neoliberalen Bildungs- und Arbeitssystems, weil es das so vorsieht. Ich fand das durchaus nachvollziehbar, habe mir aber, als ich damals das Interview gelesen habe, dennoch die Frage gestellt: Warum zum Geier studiert man Literatur, wenn man denn nicht lesen will? Vermutlich weil es keine:r mehr tut. Ein paar Monate später erzählte mir ein Redaktor einer Studierendenzeitung, dass die Student:innen angeregt hätten, man solle auf den Sozialen Medien statt Artikel lieber Videos posten. Das werde eher angesehen. Nun handelt es sich hier nicht um Textriemen in ‹Republik›-Länge, sondern um normale Artikel. Aber offenbar ist das schon zu viel. Die Pisa-Studie ergab, dass die Lesekompetenz der Schweizer Schüler:innen weiter abnimmt. Immer weniger Jugendliche haben Freude am Lesen, sie empfänden es oft als Zeitverschwendung. Schlechte Nachrichten also für das gedruckte Wort. Wer sich an 15-sekündige Videos auf Tiktok gewöhnt hat, wird wohl keinen Artikel, geschweige denn ein ganzes Buch mehr lesen wollen oder können. Vielleicht höchstens eine Kurzgeschichte, wenn es das Punktesystem so vorgibt.

Nun gibt es natürlich auch den Balken in meinem eigenen Auge. Habe ich früher in einer Zugfahrt vielleicht Zeitung gelesen oder sogar ein Buch, hänge ich heute mehr oder minder an meinem Telefon. Und auch sonst tauge ich hier kaum als Vorbild. Nur eines hat sich bei mir – wenn auch eher unfreiwillig – geändert: Ich bin viel weniger in den Sozialen Medien unterwegs. War ich früher täglich mehrfach auf Twitter, schaue ich heute – wenn überhaupt – nur noch alle paar Tage rein. Und aus den Twitter-Alternativen ist bis anhin noch nichts wirklich geworden. Vielleicht auch zum Glück. Nach der Übernahme von Elon Musk wurde Twitter noch toxischer, was man erst dann wirklich merkt, wenn man eine Weile nicht mehr dabei war. Wo man früher dank eines Posts eine gewisse Reichweite und vielleicht sogar eine produktive Diskussion erzielt hat, erntet man heute in der Regel höchstens Beschimpfungen. In dieser Hinsicht sind die anderen sozialen Medien etwas besser – aber besonders gute Orte für den politischen Diskurs sind sie trotzdem nicht. Gerade der Nahostkonflikt ist dort kaum auszuhalten, weil es kaum je um das Verstehen und schon gar nicht um Lösungen geht. Sondern nur noch darum, der anderen Seite zu sagen, wie sehr sie im Unrecht ist. Erschwerend hinzu kommt, dass es eine Art Bekenntniszwang gibt, nicht nur für Politiker:innen. Man muss zu allem eine Meinung haben und diese auch kundtun. Wenn man es tut, ist es garantiert falsch, tut man nichts, dann natürlich auch. «In Krisen und Kriegszeiten herrscht die Logik binären Denkens. Und die erzeugt eine permanente Meinungsmanie», schreibt Thorsten Jantschek im ‹Deutschlandfunk›. «Dafür oder dagegen, ein Drittes gibt es nicht. Das Meinung-Haben – so scheint es – bringt die eigene Unruhe, die Orientierung in Zeiten, in denen unentwegt Gewissheiten zusammenbrechen, für einen Augenblick zur Ruhe. Die Meinung steht. Wer nicht zustimmt, stört.» 

Manchmal ist aber die Welt und die Wahrheit komplexer und widersprüchlicher, als es ein einfaches Dafür oder Dagegen zulässt. Und manchmal braucht man schlicht auch etwas mehr Informationen – und zwar einigermassen verlässliche – um sich überhaupt eine Meinung bilden zu können. Und diese findet sich am Schluss eben kaum in den Sozialen Medien, sondern viel häufiger da, wo sie schon früher war. In den Gedanken klügerer und informierterer Menschen, in Zeitungen, Interviews oder Büchern. Und es braucht oft mehr als fünfzehn Sekunden, um sie nachvollziehen zu können. Vielleicht ist das die Hoffnung, die das gedruckte Wort noch hat. 

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