Aufrichtig

Ich war halt in so einer Stimmung. Larmoyant. Ich hatte Mitleid mit mir. Bald würde es wieder zurückgehen in die Schweiz. Es waren nur noch Wochen und dann wäre ich wieder in Zürich. Das würde natürlich Folgen haben. Ich würde nämlich nicht mehr Zeit verplempern können mit einem Buch auf dem Sofa am heiterhellen Tag. Nicht mehr in ein Museum hineinlaufen und dann ins nächste, einfach so und ohne zu zahlen. Ich könnte nicht mehr am Weissen Haus vorbeispazieren, als wäre es das Normalste der Welt. Ich würde nicht mehr auf meiner Miniatur-Frontporch sitzen, je nach Tageszeit mit Kafi oder einem Glas Wein und mit allen Nachbarinnen und Nachbarn reden können. Es wäre vorbei mit Netflix-Bingewatching an irgendeinem Abend unter der Woche und einem Nachmittagsnap am Tag danach. Ich hätte keine dieser hochironischen Wortblitzgefechte mehr, die es so nur auf amerikanisch gibt, und nach New York hätte ich auch länger als 4 Stunden. Vor allem aber wäre ich zurück in einem Arbeitsalltag, der weder Anfang noch Ende hat, mit Abendsitzungen (die ich hier, Zeitverschiebung sei Dank, alle am Nachmittag unterbringen kann). Ich würde mein Fake-Leben, wie ich es nenne, also aufgeben und wieder ins richtige Leben zurückkehren. Ich tat mir aufrichtig leid. Bis ich den Stundenplan meines Sohnes, elfjährig, 6. Klasse, zu Gesicht bekam. Ich weiss nicht, warum mir das erst jetzt so sehr auffiel, allenfalls hat mir dieses Jahr in den USA  einfach auch die Sinne vernebelt. Oder die Augen geöffnet. Was weiss ich. Auf jeden Fall ist es so: Das Kind hat nach den Sommerferien längere Arbeitstage als die meisten Erwachsenen in ihrem Job. Es sind über 8 Stunden Unterricht täglich, abgesehen vom Mittwoch. Dazu kommen dann noch 1 bis 2 Stunden Hausaufgaben. Auch täglich. Und bevor jetzt einige aufschreien mögen: Das höre ich nicht nur vom Zürichberg mit all den Akademikerkindern, sondern stadtweit. Und: Die sogenannte Erweiterte Lernzeit am Ende jedes Schultages reicht schlicht nicht für die Menge des Hausaufgabenstoffs. Natürlich ist die Schule ein Privileg und man muss auch ein wenig etwas tun, um vorwärts zu kommen. Manchmal ist es halt hart und wer lernt, sich durchzubeissen, der und die hat es dann später allenfalls einfacher. Man kann nicht allen alle Hindernisse aus dem Weg räumen. Aber darum geht es nicht.  Es ist etwas anderes. Die Ignoranz aller Studien gegenüber, beispielsweise, die sagen, dass ein früher Schulbeginn nichts bringt (und es gibt meines Wissens keine Studie, die das Gegenteil behauptet), die jungen Menschen sind einfach noch nicht aufnahmefähig. Trotzdem muss mein Kind an zwei Tagen um 7.30 Uhr in der Schule sein – zwar für Sport, aber das ist ja dann auch irgendwie eine Quälerei. Der frühe Schulbeginn – und das wird in den oberen Stufen noch schlimmer – scheint sakrosankt, trotz gegenteiliger Erkenntnisse wird einfach daran festgehalten. Das Gleiche gilt für die Hausaufgaben. Obwohl auch hier ziemlich eindeutig feststeht, dass sie zum Lernerfolg nichts beitragen, sondern nur genau zwei Dinge bewirken: Erstens verstärken sie die Ungleichheit. Wer Eltern hat, die bei den Hausaufgaben helfen können, hat Glück. Der und die andere haben Pech. Zweitens sind es einfach noch einmal Stunden, die ein Kind irgendwann nach acht oder mehr Stunden Schule unterbringen muss, meistens auf Kosten von Hobbies oder auch ganz generell Freizeit, in der man vielleicht auch mal einfach nichts macht. Machen könnte. Aber das findet nicht statt. Die Artikel über die psychischen Erkrankungen von Jugendlichen brechen einem das Herz. Und sie legen den Fokus oft auf Corona als Auslöser dafür. Das ist sicher nicht falsch. Und hätten wir genügend gute Therapieplätze, könnte vielen dieser jungen Menschen früher und besser geholfen werden. Es ist deshalb richtig zu fordern, dass diese Plätze auch zur Verfügung stehen. Gleichzeitig müssen wir aber auch die Ursachen für die Erkrankung bekämpfen. Ich halte diese irre zeitliche Belastung von bereits sehr jungen Kindern für eine davon. Es ist nicht nur Corona. Die Kinder sind in so jungen Jahren einem Ausmass an Stress ausgesetzt, das wir manchem Erwachsenen nicht zumuten möchten. Das tut mir aufrichtig leid.

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